61

89 12 0
                                    

„Sie denkt, wir wären zusammen", erklärte Milan.
Leyla lachte, sie lachte und lachte.
„Sowas absurdes. Wie kommt sie denn darauf?", gluckste sie, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Sie bemerkte, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, aber sie konnte es nicht genau deuten. Hatte sie etwas Falsches gesagt?
„Na ja, so absurd find ich das jetzt nicht", erwiderte er und klang...beleidigt? Verletzt? Sie war sich nicht sicher.
„Außerdem", fuhr er fort, „hat sie gesehen, wie wir uns geküsst haben, gestern, mein ich und...also, so abwegig ist es dann doch nicht."
„Oh"
Mehr brachte sie nicht heraus. In Gedanken ging sie noch einmal alles durch, was geschehen war, seit sie Milan kannte und es fiel ihr wie Schuppen vor den Augen, plötzlich kam ihr das alles andere als an den Haaren herbeigezogen vor. Im Gegenteil, sie hatten sich in den paar Monaten sogar auffällig oft wie ein Pärchen verhalten – auch dann, wenn sonst niemand anwesend war. Ihr drängte sich eine Frage auf, die sie nicht unbeantwortet lassen wollte.
„Milan?", fragte sie vorsichtig und an der Art, wie er aufmerksam seinen Kopf in ihre Richtung wandte, erkannte sie, dass er ihr zuhörte. „Denkst du, dass...?"
„Nein", lachte er, ließ sie gar nicht aussprechen und schüttelte energisch den Kopf. Trotzdem hatte Leyla ein ungutes Gefühl. Oder fühlte sie sich ungut, so ganz allgemein? Und was empfand sie überhaupt, wenn sie an die Vorstellung dachte, mit Milan zusammen zu sein? Freude? Unglauben? Oder kam es ihr doch total abwegig vor? Sie hatte keine Ahnung, war verwirrt. Sie wusste auch nicht genau, ob sie froh oder verletzt sein sollte, dass Milan nicht dachte, dass sie eine Beziehung führten. Sowieso, wie sollten sie eine Beziehung führen, wenn sie doch nie darüber sprachen, was sie füreinander empfanden – bis auf das eine Mal, bei dem Milan sie auf ihre Gefühle angesprochen hatte, bei dem sie gesagt hatte, dass sie nicht wusste, was sie empfand. Und so war es noch immer und irgendwie machte sie das wütend. Sie musste sich ablenken.
„Wie geht's dir eigentlich, so allgemein?", fragte sie ihn und kam sich lahm vor.
„Gut", antwortete er, lächelte und wirkte dabei so aufrichtig, dass sie nicht anders konnte, als mitzulächeln.

„Warst du bei Milan?", wurde Leyla begrüßt, kaum, dass sie die Tür geschlossen hatte.
„Äh, ja. Warum?", stellte sie die Gegenfrage.
„Ach, nur so", winkte Christiane ab und obwohl Leyla ihr nicht glaubte, fragte sie nicht weiter nach. Vielleicht hatte sie ja ähnliche Gedankengänge wie Milans Mutter, aber darüber wollte sie gar nicht nachdenken.

Sie war schon eine Weile zuhause, als das Telefon klingelte.
„Schubert?", meldete sie sich.
„Leyla, bist du's?", kam es von der anderen Seite.
„Ja", erwiderte sie.
„Ich bin's, Sabine. Milan wollte mit dir sprechen."
„Oh, okay", sagte Leyla verwirrt und machte sich dabei mit dem Hörer auf den Weg in ihr Zimmer. Sie hatte wenig Lust darauf, dass ihre Mutter sie belauschen konnte.
Am Hörer raschelte es einen Moment, dann hörte sie ein leises „Hey".
„Hey, Milan", erwiderte sie erfreut. „Was gibt's? Alles okay?"
„Nein...ja...ich...keine Ahnung", stammelte er.
Vor ihrem inneren Auge tauchten die altbekannten Seifenblasen auf, aber sie waren verschwommen.
„Oh...Willst du drüber reden? Oder soll ich dich ablenken?", fragte sie ihn, fühlte sich irgendwie hilflos. „Ich kann auch nochmal vorbeikommen, wenn du willst."
„Nein, ist schon okay so", lehnte er schnell ab. „Aber über Ablenkung würde ich mich freuen."
Er bemühte sich hörbar, nicht allzu fertig und traurig zu klingen, was Leyla das Herz brach.
„Okay, gut. Soll ich...keine Ahnung, dir eine Geschichte erzählen? Oder...puh...vielleicht was vorlesen? Oder fühlst du dich dann wie ein kleines Kind?"
„Vorlesen ist gut. Ich werde mich wahrscheinlich wie ein kleines Kind fühlen, aber...genau das brauch ich jetzt auch, ehrlich gesagt."
Er wurde immer leiser und seine Ehrlichkeit berührte Leyla irgendwie.
„Hast du einen besonderen Wunsch?", fragte sie.
„Nein, überrasch mich", erwiderte er.
Wahllos griff Leyla in ihr eher spärlich befülltes Bücherregal.
„Ist Harry Potter und der Stein der Weisen okay?"
„Ja"
Sie las ihm das erste Kapitel vor.
„Können wir das jetzt jeden Abend machen?", fragte er leise, nachdem sie fertig war, und erst da realisierte Leyla, dass es bereits 19 Uhr war.
„Gerne", antwortete sie.
„Jeden Abend um 20 Uhr? Damit es ein ganz festes Ritual wird", fügte er hinzu.
„Das klingt gut."
„Okay, gut. Danke. Bis morgen", verabschiedete Milan sich.
„Bis morgen", entgegnete Leyla leise.

Sie lag im Bett und dachte noch immer über dasTelefonat nach, fragte sich, was passiert war. Fragte sich, was der Grund fürMilans Traurigkeit, die durch den Hörer gekrochen war und sich in ihrem Zimmerausgebreitet hatte, gewesen war. Sie hing noch immer in der Luft, schwebte überihr, ohne sie zu befallen. Es war, als wären die Seifenblasen mit in den Raumgeschlüpft und schützten sie nun davor, von eben dieser Traurigkeit erfasst zuwerden.
Unruhig wälzte sie sich noch ein paar Stunden hin und her, bis sie letztlich ineinen ebenso unruhigen Schlaf fiel.    

FarbenblindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt