47

98 7 0
                                    

Sie sah ihn an, musterte den winzigen Gesichtsausschnitt, der in ihrem Blickfeld war. Sie blickte in die braunen Augen, die sie anzusehen schienen, ohne, dass sie wirklich etwas sahen. Er schwieg. Ihr Herz raste. Was war passiert? Was hatte das alles zu bedeuten? War er in sie verliebt? Oder war einfach nur genauso verwirrt wie sie, vor allem damals, als sie ihn geküsst hatte? Für einen Moment lag ihr die Frage Bist du etwa in mich verliebt? auf der Zunge, doch sie verwarf sie wieder. Es erschien ohnehin viel zu unwahrscheinlich, dass das passierte, dafür war sie viel zu introvertiert, zu unsicher, zu schüchtern, zu anders.
„Milan?", fragte sie, wusste nicht, ob er ihre Frage überhaupt wahrgenommen hatte. Immer noch keine Reaktion.
„Milan, bitte red mit mir. Ich bin dir nicht böse oder was auch immer.", stieß sie verzweifelt hervor, „Ich will nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert. Nicht schon wieder."
Amy hob den Kopf und schnüffelte in ihre Richtung.
„Es ist alles gut, keine Sorge, Amy", murmelte sie und strich der Hündin über den Kopf.
Milan öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, würde aber von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Frau Rattner steckte den Kopf ins Zimmer.
„Milan, wir würden dann gehen", sagte sie und wandte sich dann an Leyla: „Alles wieder okay?"
Leyla nickte und half Milan, aufzustehen und führte ihn zur Tür, wo sie ihn an seine Mutter übergab.
„Nimm's bitte nicht persönlich, aber ich bleib hier", murmelte sie und Milan wandte sein Gesicht ab, eine Geste, die ihr das Herz zerriss. Wie oft konnte ein gebrochenes Herz eigentlich noch brechen, bis nichts mehr davon übrig war?
„Alles okay zwischen euch?", fragte Milans Mutter etwas irritiert.
„Ja"
Seine Antwort kam schnell, zu schnell, um noch glaubwürdig zu wirken, doch die Frau fragte nicht weiter nach, sondern verabschiedete sich von Leyla, bedankte sich für die Einladung und ließ sie dann allein. Seufzend drehte Leyla sich um und blickte Amy an.
„Das ist doch beschissen", fluchte sie und die Schäferhündin wedelte mit dem Schwanz, als wollte sie ihr zustimmen. Das Mädchen lief zur Musikanlage und schaltete das Bluetooth ein, verband sie mit ihrem Smartphone, suchte aus ihrer Playlist irgendein ruhig Lied heraus und warf sich anschließend, nachdem sie sichergestellt hatte, dass die Musik lief, aufs Bett, was Amy erschrocken zusammenzucken ließ. Doch Leyla konnte darauf keine Rücksicht nehmen, wollte es nicht. Wut, Verwirrung, Schmerz ergriffen sie und sie fing an, zu weinen, das Gesicht zwischen den Armen verborgen. Besorgt winselnd robbte Amy auf sie zu und versuchte, die Schnauze zwischen Arm und Wange geklemmt, ihre Tränen aufzulecken, erfolglos. Doch Leyla wusste die Geste zu schätzen. Sie weinte, weinte und weinte, bis sie schließlich einschlief. Es war Jahre her gewesen, dass sie so heftig geweint hatte.

Am nächsten Morgen saß sie mit zugeschwollenen Augenam Frühstückstisch und saß ihrer Mutter dabei zu, wie sie frühstückte. Leylaselbst hatte keinen Hunger.
„Willst du über gestern reden?", fragte ihre Mutter vorsichtig.
„Papa", sagte Leyla nur, mehr brachte sie nicht heraus – und sie wusste, dassihrer Mutter diese Antwort ausreichte, es klar war, dass sie nicht darüberreden wollte. Verständnisvoll nickte die Frau.
„Milan kommt heute vorbei, um Alpha abzuholen. Ist das okay?"
Leyla zuckte mit den Schultern. Es war ihr egal. Sie wollte Milan nicht sehen,zumindest vorerst. Sollte er doch kommen. Sollte er Alpha doch abholen. Siewürde nicht mit ihm reden, solange er ihr nicht sagte, was das gestern Abend zubedeuten hatte.
„Wenn er kommt, sag ihm, dass ich nur mit ihm reden will, wenn es um gesterngeht. Er wird wissen, was ich meine. Ansonsten will ich nicht mit ihm reden.",murmelte sie und wich dem besorgten Blick ihrer Mutter aus.
„Willst du denn wenigstens darüber reden? Milan sah gestern auch irgendwie...ichweiß nicht. Irgendwas ist doch gestern passiert, zwischen euch, mein ich. Habtihr euch gestritten?", fragte sie.
„Nein", erwiderte Leyla heftig und stand so plötzlich auf, dass der Stuhl fastumkippte. „Nein, haben wir nicht. Und jetzt lass mich in Ruhe", fauchte sie,drehte sich um und ging in ihr Zimmer.
Dort kramte sie nach ein paar Klamotten und verzog sich anschließend ins Bad,um duschen zu gehen.
Das Wasser prasselte auf sie herunter,sie hatte das Gefühl, dass es sie regelrecht niederdrückte. Ihre Knie schienennachzugeben und am Ende fand sie sich zusammengekauert in der Dusche wieder.Sie fühlte sich wie im Film, wenn die Leute heulend in der Dusche saßen, umwieder runterzukommen. Leyla hatte nie begriffen, was das bringen sollte,welchen Sinn genau das hatte, aber in diesem Moment tat es gut. Sie fühlte sichtatsächlich irgendwie besser, konnte allerdings nicht sagen, woran es lag. DieZeit verging, sie wusste nicht, wie lange sie unter dem prasselnden, warmenWasserstrahl saß, ohne sich die Haare zu waschen oder den Körper einzuseifen.Sie hockte da einfach und dachte nach. Das Wasser lief über ihre Wangen bis hinzu den Lippen, wo es sich verteilte und sie benetzte. Irgendwie erinnerte siedas an Milans Kuss und Wut stieg in ihr auf, Wut auf Milan, der sich geweigerthatte, ihr zu sagen, was das sollte, Wut auf sich selbst, weil sie das so sehrbeschäftigte.
Sie kam gerade aus dem Bad und ein Schwall Wasserdampf begleitete sie, als esklingelte und sie gedämpft Milans Stimme hörte. Plötzlich ergriff sieNervosität, ihre Herz schien doppelt so schnell Blut zu pumpen als gewöhnlich.Und sie wusste nicht, was schlimmer sein würde: Wenn Milan mit ihr über gesternreden würde oder wenn er es nicht tat. Panisch stürzte sie in ihr Zimmer undlief auf und ab, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Wütend trommeltesie auf ihr Kissen ein, als wäre es schuld an ihren Gefühlen.
Kurz darauf klopfte es und durch die geschlossene Tür drang die Stimme ihrerMutter: „Ley? Er ist wieder weg."
Er war wieder gegangen, ohne mit ihr zu reden. Für Leyla war das eindeutigeAntwort: Sie war ihm egal. Mit einem Mal stellte sie alles infrage. Sie hattegedacht, dass ihre Freundschaft – oder was auch immer genau das gewesen war –etwas Besonderes, Außergewöhnliches war, aber vielleicht hatte sie sich das nureingebildet. Vielleicht hatte nur sie das so gesehen. Vielleicht...Nein, darüberdurfte sie gar nicht erst nachdenken. „Okay", rief sie durchs Zimmer.    

FarbenblindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt