Blind zu sein war so ziemlich das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Er hätte seine Ohren sofort gegen seine Augen getauscht. Er war sich sicher, dass es leichter war, gehörgeschädigt – er fand dieses Wort treffender als taub oder taubstumm – durch die Welt zu gehen als Augen zu haben, die nicht mal ansatzweise funktionierten. Noch nie funktioniert hatten. Er wünschte sich, dass er zumindest ein paar Jahre hätte sehen können, damit er sich unter Farben etwas vorstellen konnte. Worte wie „rot", „blau" oder „lavendelfarben" sagten Milan nicht viel. Allerdings stellte er sich bei „lavendelfarben" etwas vor, das ungefähr dem Duft entsprach. Etwas leichtes, helles, irgendwie süßlich und unaufdringlich.
Vorsichtig streckte er die Hand aus, so lange, bis seine Fingerkuppen auf die Sitzfläche der Parkbank trafen. Langsam fuhr ein Stück des rauen Holzes nach, bis er sich sicher war, sich setzen zu können, ohne dabei die Kante zu erwischen und umzukippen. Natürlich hätte er seinen Blindenstock dafür benutzen können, aber er wollte nicht auf das leise Klicken des Stockes vertrauen, er verließ sich lieber auf seinen Tastsinn. Milan hasste den Stock, er gab ihm das Gefühl, noch hilfloser zu sein. Und nicht nur das – seine Hilflosigkeit, seine Behinderung waren für jeden sichtbar. Die Steigerung wäre die Blindenbinde gewesen, die geradezu schrie: Seht her, ich bin blind und bemitleidenswert! Zumindest kam es ihm so vor und darauf konnte er gerne verzichten.
Plötzlich realisierte er, dass seine Hand noch immer auf der Sitzfläche der abgenutzten Parkbank ruhte, er hatte das Gefühl, dass sie unter der Wärme seiner Hände ausbleichte, so, wie die Sonne es tat, zumindest, wenn er seiner Mutter Glauben schenkte. Und warum sollte sie ihn anlügen?
Nachdenklich legte er den Kopf in den Nacken, genoss die Sonnenstrahlen auf seinen geschlossenen Lidern.
Früher hatte er dabei nie die Augen geschlossen, für ihn war es ja so oder so stockdunkel. Aber eines Tages hatte sein Bruder ihn gebeten, doch bitte dabei die Augen zu schließen, damit es nicht so gruselig wirkte – damals hatten sie noch miteinander geredet. Eine Zeit lang hatte er nicht verstanden, was daran unheimlich sein sollte, bis seine Mutter es ihm erklärt hatte. Damals hatte er gelacht und gesagt, dass ihm doch egal sei, ob man ihm ansah, dass er blind war. Er hatte nicht zugeben wollen, dass er es nahezu darauf angelegt hatte, da erschien ihm es wie ein guter Kompromiss. Damals, als er zehn oder elf Jahre alt war, das Gefühl brauchte, irgendetwas Besonderes zu sein – und mit besonders meinte er nützlich. Zu dieser Zeit hatte ihn dieses Gefühl erdrückt, immer wieder hatte er das Gefühl gehabt, dass der Gedanke, er sei nutzlos, ihm jedes bisschen Luft aus den Lungen saugte. Heute hatte er dieses Gefühl immer noch, aber er ging anders damit um. Er wollte etwas Nützliches tun, sein, aber es musste nicht zwingend im Hier und Jetzt sein. Er war sich sicher, dass der richtige Zeitpunkt kommen würde.
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Farbenblind
Teen Fiction»„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. „Weiß", erwiderte sie. „Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd. „Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass...