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Leyla vermisste ihn, dabei war Milan gerade erst seit 15 Minuten weg. Wie konnte es sein, dass man jemanden vermisste, der doch gerade erst noch hier gewesen war? Sie vermisste seine Nähe, seine Stimme, das Gefühl seiner Hand, die ihre hielt. Die Wärme, die er ausstrahlte, äußerlich und innerlich, die sie umwickelte und an ihr haftete wie Honig. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ihr diese wärmende, honigfarbene Zuneigung gefehlt hatte, bis Milan aufgetaucht war. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wann sie diese Art der Zuneigung das letzte Mal erhalten hatte – und erst recht nicht, von wem. Sie saß noch immer im Wohnzimmer, ein Bein lag seitlich angewinkelt auf dem Sofa, das andere hatte sie an ihren Körper gezogen und ihre Arme darumgelegt, sie klammerte sich an ihre eigene Umarmung und versuchte, das Gefühl der Einsamkeit zu verdrängen, das sie langsam überkam. Sie hörte das leise Prasseln der Dusche in der Etage über ihr, lauschte dem tiefen, entspannten Atmen der Hunde, die, mitten im Raum aneinander gekuschelt, friedlich schliefen. Leyla beneidete sie, sie wünschte sich, sie könnte auch so entspannt schlafen, ohne anstrengenden Gedanken, die Wettrennen zu veranstalten schienen. Seufzend rieb sie sich mit ihrem Knie die Augen und ließ ihr Gesicht schließlich dort liegen, sie war müde, der Tag war anstrengend gewesen – und dabei war es gerade erst 15.40 Uhr.
„Hallo, Ley", drang die Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr, sie musste fertig geduscht haben. Leyla hob den Kopf, sah auf dem rechten Auge tanzende, bunte Flecken, ihr Knie hatte ihr zu sehr aufs Auge gedrückt.
„Mama", sagte sie leise, klang viel jünger als 17, fast schon weinerlich, „kannst du mir vielleicht was vorspielen?"
Überrascht sah ihre Mutter sie an, nickte dann aber erfreut, setzte sich dann ans Klavier und fing an, ein Stück zu spielen, das Leyla noch nicht kannte. Ein helles, fröhliches, genau das, was sie jetzt brauchte. Etwas Aufmunterndes. Sie hatte damit gerechnet, dass in ihr der Drang hochkochen würde, zu tanzen, doch er blieb aus. Stattdessen kehrte in ihr eine ungewohnte Ruhe ein, sie schloss die Augen und konzentrierte sich ausschließlich auf die blauen Kreise, die in ihrem, mittlerweile dunklen, Blickfeld herumtanzten. Ein seltsam zufriedenes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht.

Um sie herum war es dunkel, sie lag im Bett und versuchte, Schlaf zu finden, erfolglos. Seufzend stand sie auf, sie war es leid, nicht einschlafen zu können. Für einen Moment dachte sie darüber nach, nachzusehen, ob bei Rattners das Licht brannte, aber sie entschied sich dagegen – das würde die Sehnsucht, die immer noch leise an ihrem Herzen nagte, nur verstärken und darauf konnte sie verzichten. Stattdessen griff sie zu ihrem MP3-Player und suchte ein Klavierstück heraus, irgendetwas in ihr drin sagte ihr, dass sie das jetzt brauchte, um runterzukommen. Sie suchte eines heraus, stellte die leiseste Lautstärkestufe ein und legte das Gerät schließlich unter ihr Kopfkissen, ehe sie sich hinlegte. Ganz, ganz leise drangen die Töne an ihr Ohr, durch das Kissen hindurch und das Blau vor ihren Augen war so transparent, dass sie das Gefühl hatte, hindurchgreifen zu können, ohne, dass ihre Hand von dem Blau verdeckt worden wäre. Aber sie ließ ihre Hand dort liegen, wo sie war, sie wollte sich nicht dämlich vorkommen. Es dauerte nicht lange, bis sie einschlief.
Sie träumte von Simon, der Milan verprügelte, immer wieder und wieder, mit dem Blindenstock, mit den Fäusten und sie träumte von Amy, die wie eine wildgewordene Bestie auf Simon losging und Milan verteidigte, sie hatte Schaum vor dem Mund, wirkte total aggressiv und gerade, als Leyla sie zurückpfeifen wollte, gesellten sich Abby, Amor und Alpha dazu. Sie wollte zu den Hunden laufen oder vielleicht auch zu Milan, sie wusste es nicht genau, sie wusste nur, dass sie lief und lief und doch irgendwie auf der Stelle blieb, wie bei einem Laufband – bis sie schließlich stolperte und während sie schreiend zu Boden fiel, zuckte sie im Schlaf und wachte auf.
Verwirrt richtete sie sich auf, sah sie sich im dunklen Zimmer um, nur das spärliche Licht einer Straßenlaterne drang in den Raum. Für einen Augenblick kämpfte sie mit den Tränen und ihr Herz raste, denn obwohl sie wusste, dass es nur ein Traum war, hatte sie das Gefühl, dass dieser Traum ihr ihr ganzes Leben, verpackt in eine Szene, vorführte. Die Menschen, die sie liebte, erhielten immer wieder Schläge und sie wollte helfen, aber schaffte es nicht und die, die helfen konnten, übertrieben es, kannten ihre Grenzen nicht. Leyla schluckte, atmete zittrig ein und aus, ein und aus, ein und aus, versuchte, ihr Herz dazu zu bringen, wieder die gewöhnliche Geschwindigkeit anzunehmen. Erfolglos. Frustriert warf sie sich zurück ins Kissen, zog die Decke bis ans Kinn, nahm die Embryonalstellung ein und hoffte, dass sie das vor weiteren, schrecklichen Träumen bewahren würde – dabei wusste sie, dass das nur ein peinliches Wunschdenken war.

Völlig gerädert saß sie am Frühstückstisch, starrteabwesend auf die Tischplatte vor sich. Sie hatte keinen Hunger und ihre Mutterwar nicht da, es war also niemand da, der sie dazu drängte. Früher war dasanders gewesen. Früher, als ihr Vater...DingDing Dong. Die Tür klingelte, erleichtert darüber, dass ihre Gedankenrechtzeitig unterbrochen wurden, lief sie zur Tür und achtete darauf, dasskeiner der Hunde auf die Straße stürmte, bevor sie sie öffnete.
„Milan", rief sie überrascht aus, „und Frau Rattner! Ist alles okay?"
Plötzlich ergriff sie ein ungutes Gefühl, sie hatte Milan mit seiner Mutternoch nie außerhalb der Rattner'schen Behausung gesehen.
„Ja", erwiderte seine Mutter und Milan starrte wütend auf den Boden, er wirkteirgendwie bockig, wie ein kleines Kind.
„Könntest du ihn vielleicht zum Augenarzt begleiten? Ich glaube, du hast einenbesseren Einfluss auf ihn als ich"
Es überraschte sie, wie verzweifelt seine Mutter klang.
„Natürlich, ich werds versuchen. Und wenn er sich absolut weigert?", fragteLeyla.
„Komm dann am besten vorbei, wir reden dann mit ihm zusammen drüber. Gott, alswäre er erst 9 Jahre alt"
„Ich bin blind, nicht taub", fauchte Milan, er klang gereizt und Leyla überkameine Gänsehaut. Sie wollte nicht, dass er so gereizt und wütend war. In ihr kamein mütterlicher Instinkt auf, sie wollte ihn umarmen, bis alles wieder gutwar. Aber das würde Milan vermutlich nicht wollen, also kämpfte sie den Drangnieder. Leyla griff nach Milans Hand, ignorierte dabei Frau Rattners Blick sogut es ging und zog ihn in den Flur.
„Bis später, ich werd mich drum kümmern!", rief sie fröhlich und schloss dieTür. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, spürte sie, wie Milan sichentspannte.
„Danke", murmelte er.
„Was war los?", fragte sie besorgt.
„Meine Mutter wollte mich unbedingt zu Frau Dr. Mahlberg schleppen", erwiderteer genervt.
„Milan, wir gehen dahin. Mir egal. Du musst, allein des Blindenstocks wegen.Und davon abgesehen würde ich auch noch gerne was mit ihr besprechen."
Sie klang bestimmter als beabsichtigt, aber es schien zu wirken.
„Okay, von mir aus", murrte er, klang aber alles andere glücklich.
„Wo ist Alpha?", fragte er dann, als wollte er sich mit dem Hund ablenken undkaum hatte er den Satz ausgesprochen, stürmte der Hund auf ihn zu und sprang anihm hoch.
„Alpha! Nein! Nicht springen!", rief Leyla, musste aber ein bisschen lachen,was ihren Worten jede Ernsthaftigkeit nahm. Umständlich ging Milan in die Hockeund versuchte, Alpha zu streicheln, erwischte ihn aber nicht, da der Hund ganzaufgeregt um ihn herumwuselte. Als er das merkte, blieb er ruhig stehen, damitMilan ihn ausgiebig kraulen konnte und Leyla beobachtete, wie der Hundgenüsslich die Augen schloss und einen zufriedenen Laut von sich gab.
„Sollen wir noch mit den Hunden raus, bevor wir zum Augenarzt gehen? Wann istder Termin überhaupt?", fragte sie ihren Besuch.
„14.45 Uhr", erwiderte Milan und obwohl er versuchte, seinen Frust zuunterdrücken, hörte Leyla ihn doch heraus.    

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