„Okay, ich freu mich schon. Dann, äh, geh ich mal wieder. Bis morgen", meinte sie und ärgerte sich über ihre Unsicherheit. Warum war sie nur plötzlich wieder so unsicher? Milan hatte ihr doch bisher jede Unsicherheit genommen, bei ihm fühlte sie sich sicher, wohl, geborgen. Woher also war diese Unsicherheit nur herausgekrochen, um sich dann schließlich in ihr auszubreiten wie Tinte in einem Wasserglas und sich mit ihrer Stimme zu vermischen? Wovor hatte sie unterbewusst nur solche Angst?
„Bis morgen", erwiderte Milan und lächelte.Bis morgen. Er hatte es schon wieder gesagt. Zwar lediglich als Antwort auf ihr Bis morgen, aber das ignorierte sie. Bis morgen. Milan wollte sie wiedersehen. Morgen schon. Es erschien ihr immer noch unbegreiflich, wie der Junge es schaffte, sie auf eine derart konfuse Weise glücklich zu machen, ihr das Gefühl zu geben, dass sie in Ordnung war, so, wie sie war. Sie wusste nicht, wie oft sie das bisher festgestellt hatte, aber sie wusste, dass sie diese Tatsache auch noch eine ganze Weile jedes Mal aufs Neue überrascht realisieren würde.
„Alles okay?", fragte ihre Mutter. Irritiert sah Leyla auf und blickte sie an.
„Hm, was? Ach so, ja, klar, alles in Ordnung", murmelte sie und nahm erst jetzt so wirklich den mit Spaghetti Napoli gefüllten Teller wahr.
„Sicher? Du sitzt seit zehn Minuten vor deinem Essen und starrst Löcher in die Luft.", meinte Christiane skeptisch, sagte dann aber nichts mehr und fuhr damit fort, die dampfenden Nudeln zu essen. Leyla hatte eigentlich keinen Hunger, ihr Kopf war zu voll mit ihrer Unsicherheit und Milans Bis morgen, aber sie wusste genau, dass ihre Mutter es nicht durchgehen lassen würde, wenn sie jetzt einfach aufstehen würde, ohne etwas gegessen zu haben. Also quälte sie das Essen in sich hinein und wartete ungeduldig darauf, dass ihre Mutter fertig war mit Essen. In ihr stieg der plötzliche Drang auf, den Nussknacker – eigentlich die Nussknacker-Suite – zu hören und dazu zu tanzen.
Nachdem sie das Geschirr abgeräumt und in die Spülmaschine geräumt hatte, stürmte sie, wie ein kleines Kind, das stundenlang sehnsüchtig auf sein neues Spielzeug gewartet hatte, in ihr Zimmer, schaltete ihren Laptop ein, verband ihn mit ihrem Bluetooth-Lautsprecher und suchte aus ihrer Musikliste das Ballettstück heraus. Sie schloss die Augen und fing an, zu tanzen. Es war nicht mal annähernd das, was die meisten wohl als professionelle Choreographie bezeichnen würden, aber es war ihr egal, es zählte nur, dass sie ihre Gedanken loswerden konnte. Kaum setzten die Kontrabässe ein, tauchten sie auf – orangefarbene Spiralen, die wild durcheinanderzuwirbeln schienen und sich gleichzeitig doch kein Stück bewegten. Sie vermischten sich mit türkisfarbenen Punkten, als die Querflöten anfingen zu spielen. Kurz mischten sich grüne Wellenlinien ein, als man die Geigen für zwei Sekunden hörte. So ging es immer weiter, die verschiedensten Formen und Farben tauchten auf und verschwanden wieder, Leyla sprang und wirbelte durchs Zimmer, nahm aus dem Augenwinkel war, wie die Hunde, einer nach dem anderen, hereingeschlichen kamen und Amor und Abby versuchten, Leyla zu fangen und mit ihr zu spielen, sie konzentrierte sich nur noch darauf, nicht über einen der Hunde zu stolpern, sie hörte auf, großartig nachzudenken – und dann war das Stück vorbei. Keuchend blieb sie stehen, wischte sich die leicht verschwitzten Haare aus dem Gesicht und fing an, zu lachen, als sie den verwirrten Blick von Amor und Abby, die, verdutzt über das Ende der Musik übereinander stolperten, sah. Amy und Alpha hingegen lagen seelenruhig an der Tür und Leyla wusste genau, dass Alpha den perfekten Blindenhund abgeben würde. Dabei fiel ihr ein, dass sie noch zusammen mit ihrer Mutter, eine Schule für Blindenhunde suchen musste. Aber das würde sie erst nach Weihnachten tun, nachdem sie Milan und seiner Mutter die Nachricht überbracht hatte. Und nachdem alles erledigt war, was ihnen erlaubte, Alpha zu einem Blindenhund ausbilden zu lassen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass es vermutlich gar nicht so einfach war, seinen Hund ausbilden zu lassen, vor allem, wenn er bereits für jemanden bestimmt war. Ging das überhaupt, rein rechtlich? Und was kostete das? Wer trug die Kosten? Gefühlt tausend Fragen wirbelten ihr durch den Kopf, gepaart mit gefühlt über zweitausend möglichen Antworten, was sie so sehr stresste und in ihr Panik auslöste, dass es gar nicht funktionieren würde. Sie und ihre Mutter hatten sich viel zu wenig Gedanken gemacht. Tränen traten ihr in die Augen beim Gedanken daran, dass Alpha doch nicht Milans Hund wurde und er zu einer anderen Familie sollte, eine Familie, die nicht mal annähernd an die Verbindung herankommen würde, die zwischen Alpha und Milan herrschte. Das durfte sie nicht zulassen, unter keinen Umständen. Wütend über die Möglichkeit, dass ihr Plan eventuell gar nicht funktionierte, schluckte sie, wischte sich die Tränen aus den Augen und setzte sich neben Alpha, der noch immer vollkommen entspannt auf den Boden lag, den Kopf auf die Pfoten gebettet. Nachdenklich fuhr sie ihm über den Kopf, kraulte ihn hinter den Ohren und stellte sich vor, wie der Rüde Milan an einem Führgeschirr durch den Park lenkte, ihn zielsicher nach Hause brachte und ihm der beste Freund war, den man sich wünschen konnte. Für einen Moment verspürte sie einen kleinen, eifersüchtigen Stich, der jedoch beim Gedanken daran, dass man sie nicht mit dem Hund vergleichen konnte, wieder verflog.
„Ach, Alpha, ich bin so blöd", murmelte sie, jedoch eher zu sich selbst als zum Hund. Alpha neben ihr atmete schnaubend aus.
Leyla wusste nicht genau, wie lang sie so dasaß. Sie wusste nur, dass es immer dunkler wurde – war das überhaupt möglich, wenn es doch sowieso schon stockdunkel war? – und die Hunde einer nach dem anderen aus dem Zimmer tapsten, um unten im Wohnzimmer zu schlafen. Alpha blieb am längsten und auf eine seltsame Art und Weise zerriss sie das. Sie hielt es fünf Minuten mit ihm alleine aus, dann schickte sie ihn weg.

DU LIEST GERADE
Farbenblind
Teen Fiction»„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. „Weiß", erwiderte sie. „Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd. „Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass...