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Er ist genauso verwirrt wie ich, dachte sie immer wieder, Aber was ist, wenn herauskommt, dass einer für den anderen mehr empfindet? Werden wir dann befreundet bleiben? Der Gedanke löste in ihr ein ungutes Gefühl aus. Was würde sie machen, wenn sie nicht mehr miteinander reden würden, einfach, weil ihre Gefühle füreinander so verschieden waren? Würden sie sich zusammenreißen und trotzdem weitermachen? Und wie lange würde es dauern, bis es wieder war wie zuvor, falls das überhaupt möglich war? Oder würden sie getrennte Wege gehen? Hunderte Fragen wirbelten ihr durch den Kopf. Sie wollte nicht darüber nachdenken, sondern einfach nur den Moment genießen, wie vor ein paar Tagen. Aber sie schaffte es einfach nicht. Frustriert kickte sie einen kleinen Stein vor sich her.
„Alles okay?", fragte Milan, er klang besorgt. Merkte man ihr ihre Stimmungsschwankungen etwa so leicht an? Oder kannte er sie mittlerweile einfach nur gut genug? Vielleicht spürte er ja einfach schneller als andere, dass die Stimmung anderer kippte? Immerhin hatte er nicht die Möglichkeit, es ihnen anzusehen.
„Klar, mir geht's gut", erwiderte sie und beschloss, sich zusammenzureißen. Leyla lächelte, versuchte, sich selbst vorzuspielen, dass alles okay war und griff schließlich nach seiner Hand. Das Gefühl seiner Haut an ihrer sorgte dafür, dass sie sich besser fühlte. Er war besser als jede Therapie, jedes Medikament und jede Droge zusammen. Sie brauchte ihn und irgendwie machte dieser Gedanke ihr Angst. Sie wollte nicht abhängig sein, sie hatte genug davon, dass sich Abhängigkeit zwischen zwei Menschen ihr Leben drängte. Die Tatsache, dass es so etwas immer irgendwie geben würde, ignorierte sie geflissentlich.

„Wo warst du denn?", fragte ihre Mutter verwundert, als Leyla wieder nach Hause kam.
„Ich hab mich mit Milan unterhalten. Zwischen uns ist alles wieder okay, keine Sorge. Was machst du da?", erwiderte sie, stellte sich hinter die Sofalehne und sah ihrer Mutter neugierig über die Schulter auf den Laptop.
„Die Anzeige für Abby und Amor. Es wird höchste Zeit, dass wir sie vermitteln und Weihnachten ist ja jetzt vorbei"
Leyla nickte, das hatte sie ganz vergessen, dafür war sie viel zu sehr mit Alpha beschäftigt gewesen.
„Ach, und was Alpha angeht...", setzte Christiane an und Leyla hatte plötzlich ein ungutes Gefühl, „...ich hab mich mit einer Schule zur Ausbildung für Blindenhunde in Verbindung gesetzt und sie wären bereit, ihn anzukaufen. Allerdings erst, wenn er circa 12 Monate alt ist"
„Das dauert ja noch ewig", seufzte Leyla.
„Es könnte schlimmer sein. Ich meine, es kann am Ende immer noch passieren, dass er sich nicht für die Ausbildung eignet. Damit müssen wir rechnen, aber ich denke nicht, dass das der Fall sein wird. Und wenn es nicht klappt, hat Milan ja trotzdem noch einen treuen Weggefährten und ich bin mir sicher, dass Alpha sein Bestes tun wird, Milan zu helfen, selbst, wenn er keine Ausbildung haben sollte.", meinte Christiane und Leyla nickte.
„Darf ich mal die Anzeige lesen?", fragte sie, um sich von den bitteren Was, wenn es nicht klappt? Was, wenn Alpha sich doch nicht eignet?-Gedanken abzulenken. Leylas Mutter reichte ihr den Laptop und sie las sich den Text durch, den ihre Mutter eingetippt hatte. „Klingt gut", murmelte sie, schaffte es aber nicht, überzeugend zu klingen. Sie hatte, kaum, dass sie es gelesen hatte, jedes einzelne Wort wieder vergessen. Sie konnte einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken, dass Milan am Ende enttäuscht werden könnte – und sie wusste nicht mal, ob sie es auf sich oder auf Alpha bezog.

Sie las den hundertsten Artikel über Blindenführhunde und deren Ausbildung – so fühlte es sich zumindest an. Immer wieder las sie das gleiche und doch gab es hier und da Unterschiede. Das, was ihr am meisten Sorgen bereitete, war der Papierkram und die Zeit, die das ganze Prozedere in Anspruch nahm. Plus die 9 Monate, die sie noch warten mussten, bis Alpha ausgebildet werden konnte – wenn überhaupt. Müde rieb sie sich die Augen und atmete tief durch. Irgendwie hatte sie sich das leichter vorgestellt, viel leichter sogar. Wie naiv sie doch gewesen war. Frustriert schaltete sie den Laptop wieder aus und ging wieder zurück ins Wohnzimmer. Dort saß ihre Mutter und schaute auf den Fernsehbildschirm, ohne wirklich zu wissen, was dort lief. Leyla schluckte, das war kein gutes Zeichen.
„Ich hab Lust, essen zu gehen. Was hältst du davon?", fragte sie und hoffte, ihre Mutter so auf andere Gedanken bringen zu können, doch die hatte sie gar nicht gehört.
„Hallo? Mama?", warf sie in den Raum, diesmal etwas lauter, „Ich hab dich was gefragt!" „Hm? Was?", murmelte Leylas Mutter irritiert und wirkte, es wäre sie gerade aus dem Schlaf gerissen worden.
„Ich hab gefragt, was du davon hältst, essen zu gehen", erklärte Leyla sanft. Sie wusste, dass sie jetzt Rücksicht nehmen musste, auch, wenn sie etwas wütend auf ihre Mutter war, ganz unterschwellig. Sie hätte sich eigentlich kaum einen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, um sich über die Sache mit der Blindenführhundausbildung informieren zu können. Und wenn sie ehrlich war, hätte Leyla das gerne selbst gemacht. Aber jetzt war es zu spät. „Können wir nicht einfach was bestellen?", fragte ihre Mutter und klang so niedergeschlagen, dass es Leyla das Herz zerriss. Ihr fiel auf, wie ähnlich sie und Milan sich eigentlich waren, zumindest, was ihre familiäre Situation anging. Beide ohne Vater und beide Mütter kamen – zumindest zeitweise – nicht mit dem Verlust klar. Am liebsten hätte Leyla gelacht, so sehr frustrierte sie das.
„Von mir aus", seufzte sie stattdessen und fragte sich, ob es normal war, dass sich die Erwachsene weigerte das Haus zu verlassen und die Jugendliche essen gehen wollte. Soweit sie das mitbekam, war es sonst immer andersherum. Aber sie waren ja auch keine normale Familie.

Eine halbe Stunde später kam das Essen – sie hatteChinesisch bestellt.
„Hier, deine gebratenen Nudeln. Ohne Fleisch", sagte Leyla, während sie ihrerMutter die Pappschachtel vorsetzte und sich dabei zwang, gut gelaunt zuklingen. Es reichte, wenn die Laune von einer Person im Keller war.
„Danke, Ley"
Bildete sie sich das ein oder klang die Stimme ihrer Mutter mit jedem Wort, dasihre Lippen verließ schwerer und dunkler?
„Mama, du willst wahrscheinlich nicht drüber reden, aber...", setzte sie.
„Nein"
Die Antwort ihrer Mutter war heftig, beinahe aggressiv und Leyla zuckteerschrocken zusammen.
„Tut mir leid", murmelte sie und fühlte sich plötzlich wie ein kleines Kind.Schweigend aß sie ihre Frühlingsrollen und räumte ihren Müll dann ebensowortlos weg. Sie hatte kein Interesse daran, heute noch mit ihrer Mutter zureden.    

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