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Bewegen, bewegen, bewegen. Tanzen, tanzen, tanzen. Ablenken von den Gedanken. Ablenken von dem Gefühl auf ihren Lippen. Vergessen, was sie getan hatte. Sie musste kämpfen, gegen die Gedanken ankämpfen, gegen die Gefühle ankämpfen, gegen die Tränen ankämpfen. Leyla merkte, dass sie immer schlechter Luft bekam, ihre Luftröhre schnürte sich zusammen, ihre Lungen verschrumpelten wie Rosinen und ihr Herz zerbrach wie billiges Glas. Mit den Nerven am Ende und schluchzend ließ sie sich auf den Boden sinken. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Kaum rollte ihr die erste Träne über die Wange kam Amy angetrabt und leckte ihr besorgt winselnd übers Gesicht.
„Amy, nein", sagte Leyla und schob den Kopf der Hündin weg, während sie versuchte, energisch zu klingen. Erfolglos. Aber Amy verstand auch so, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war – im Gegensatz zu den Welpen, die gerade ankamen und versuchten, Leyla aufzumuntern. Was sie nur noch mehr zum Weinen brachte. Seltsamerweise sehnte sie sich. Nicht nach Milan oder dem Tanzen. Sie sehnte sich nach den Farben, die auf sie einströmten, wenn sie Musik hörte. Das war neu. Aber okay. Vielleicht konnte sie sich ja endlich akzeptieren, wie sie war. Sie hoffte es. Wenn Milan sie so akzeptieren konnte, wie sie war, sogar seine ganze Hoffnung, Farben begreifen zu können, in sie setzte, warum sollte sie das dann nicht auch können? Es war doch so naheliegend. Sie atmete tief durch, dann durchforstete sie das Internet nach ein paar ruhigen Klaviercovern. Klaviermusik mochte sie am meisten, blau war ihre Lieblingsfarbe. Vielleicht, weil ihre Mutter Klaviermusik so liebte. Vielleicht auch nicht, wer wusste das schon. Als die ersten, leisen, sanften Töne ansetzten, tauchten sofort helle, blaue Kreise vor ihren Augen auf und zu ihrer eigenen Überraschung umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Seufzend setzte sie sich wieder auf den Boden, mit dem Rücken ans Bett gelehnt und lauschte mit geschlossenen Augen der Musik, während sie gleichzeitig versuchte, alle vier Hunde gleichzeitig zu streicheln. Die Musik schien auch auf die Tiere eine beruhigende Wirkung zu haben – oder lag es daran, dass Leyla selbst ruhiger war? –, denn schon ein paar Minuten später schliefen sie tief und fest.

Eine Weile später klingelte es an der Tür, worum Leylasich aber nicht kümmerte. Sie bekam sowieso nie Besuch. Kurz darauf rief ihreMutter durchs Haus: „Leyla, du hast Besuch!" Verwirrt öffnete sie die Augen undlief nach unten – und erschrak, als sie Milan sah. Ihr Herz raste, ihre Händefingen an zu schwitzen und ihre Knie zitterten. Sie hatte Angst, Angst davor,was er wollte. Und auch Angst davor, was der Grund war, warum er so rote,geschwollene Augen hatte.
„Was ist passiert?", platzte sie heraus, ihre Stimme kippelte ein wenig, abersie fing sich gerade noch rechtzeitig.
„Ley, jetzt lass ihn doch erstmal reinkommen!", regte sich ihre Mutter gespieltempört auf und grinste sie an. Das Mädchen verdrehte die Augen und wollte nachMilans Hand greifen, entschied sich dann aber dagegen. Wenn nicht mal siewusste, was das alles bedeutete, woher sollte es dann Milan wissen? Unsicherlächelnd betrat er vorsichtig den Flur, dieses unbekannte Terrain. DieseUnsicherheit machte Leyla nervös, das war doch sonst immer ihr Part gewesen.
„Ich vermute mal, ihr wollt allein sein. Ich verschwind dann mal", meinteLeylas Mutter freundlich und verzog sich in die Küche, wo sie mit irgendwelchenTöpfen herumklapperte. Irritiert fragte Leyla sich, was ihre Mutter dort wohlmachte, sie betrat nur sehr ungern die Küche. Für einen Moment standen diebeiden etwas verlegen in der Gegend, niemand wusste, was er sagen sollte. Dannbrach sie schließlich das Schweigen.
„Gehen wir hoch in mein Zimmer?"
Bei dem Wort „hoch" wurde Milan sichtlich nervös.
„Ich helf dir bei den Treppen, keine Sorge", fügte sie lächelnd hinzu und griffdann doch nach seiner Hand. Ihr Puls beschleunigte sich und alles in ihr schrieWas machst du da? Leyla hätte nur zugern eine Antwort darauf gehabt, sie wusste selbst nicht genau, was sie tat –und warum. Es fühlte sich an, als hätte jemand anderes die Kontrolle über ihrenKörper übernommen.
Nach drei Stufen ließ Milan ihre Hand los und lief die Treppen alleine hoch,was sie überraschte.
„Achtung, letzte Stufe!", warnte sie ihn vor, als er am Ende der Treppeangelangt war und er nickte dankbar. Diesmal griff sie nicht nach seiner Hand.Diesmal war er es, der ihre Hand nahm. Noch etwas, was sie überraschte. Aberdas war schon okay.
In ihrem Zimmer schliefen die Hunde noch immer, doch Alpha riss sofort den Kopfhoch, als er Milans Geruch wahrnahm. Freudig wedelte er mit dem Schwanz undkuschelte sich an ihn, nachdem der Junge sich hingesetzt hatte.Unerklärlicherweise machte sich ein trauriges Lächeln auf Leylas Gesicht breit.Ein Seufzen unterdrückend setzte sie sich neben die beiden und betrachtete ihreNägel, als gäbe es nichts Spannenderes. Sie wollte etwas sagen, suchteverzweifelt nach passenden Worten. Im Hintergrund lief noch immer die Musik,das Blau tauchte wieder auf und sie war wieder an dem Punkt angelangt, an demsie sich wünschte, nie wieder hören oder sehen zu müssen. Kaum hatte sie diesenWunsch zu Ende gedacht, wurde ihr bewusst, wie grausam es war, sich so etwas zuwünschen, während jemand neben ihr saß, der nicht sehen konnte und sich nur aufseinen Hörsinn verlassen konnte. Sie fühlte sich schrecklich undankbar. Amliebsten wäre sie weggerannt, weg von Milan, weg von ihren Gefühlen, weg vonallem. Aber nur, weil man an einem anderen Ort war, hieß das nicht, dass dieGefühle und Probleme dort nicht auch präsent waren. Wegzurennen hätte ihrnichts gebracht, nicht auf Dauer, sie hätte lediglich für einen Moment den Kopfausschalten können. Problemverschiebung brachte sie kein Stück weiter.Gedankenverloren starrte sie in die Luft, ohne wirklich etwas wahrzunehmen,abgesehen von den blauen Kreisen, aber selbst die blendete sie fast komplettaus. Als etwas ihre Hand berührte, zuckte sie zusammen und sah, wie Amor sichan sich kuschelte. Das war eine Sache, die selten vorkam. Umso mehr genoss siedie Zuwendung des kleinen Rüden. Abby, die für einen Moment zu überlegenschien, ob sie Amor nicht vielleicht zum Spielen auffordern sollte, merkte,dass es ohnehin keinen Sinn haben würde und verzog sich beleidigt nach unten,dicht gefolgt von Amy, nachdem diese sicher gegangen war, dass sie die beidenHunde und auch Leyla und Milan allein lassen konnte. Eine Welle tieferZuneigung überrollte Leyla, als sie Amy hinterher sah. Das Schweigen, nurdurchzogen von Musik, blieb noch eine Weile bestehen, bis Leyla schließlich denMut fand, etwas zu sagen.
„Also, was genau ist passiert?" Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie sichMilan bei der Frage anspannte.    

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