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Es klingelte an der Tür.
„Ich mach auf!", rief seine Mutter und kurz darauf: „Milan, Schatz, du hast Besuch!"
Gerade, als er fragen wollte, wer es war, spürte er, wie Alpha, der zu seinen Füßen lag, mit dem Schwanz wedelte.
„Hey, Leyla!", sagte er erfreut, als er ihren Geruch erkannte.
„Hey, Milan", antwortete sie, klang aber nicht ganz so erfreut, mehr besorgt.
„Ist was passiert?", fragte er verwirrt.
„Simon war bei uns."
„Simon? Aber was...?"
„Hunde angucken, meinte er. Zu mir hat er gesagt, er wird sich auf jeden Fall einen der beiden holen. Und er hat sich als einen Herr Müller ausgegeben. Amy hat sich furchtbar aufgeregt, als er Abby anfassen wollte, da ist er gegangen. Zum Glück."
„Oh je"
„Ja"
Schweigen machte sich breit, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
„Hast du deiner Mutter erzählt, dass es Simon war?"
„Ja. Sie meinte, er wird auf keinen Fall einen der beiden kriegen."
Milan gab ein nachdenkliches Geräusch von sich.
„Immerhin etwas", murmelte er.
„Du weißt, dass das kein gutes Zeichen ist?", fragte sie ihn.
„Ja"
Erneutes Schweigen, wieder hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Milan wurde schlecht bei dem Gedanken daran, wie sich Simon langsam wieder in sein Leben drängte.
Jahrelang hatte er sich gewünscht, dass sein Bruder wieder ein Teil seines Lebens wurde – und jetzt war es soweit und er wünschte sich, dass es nicht so war. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Ihn beschlich das Gefühl, dass sein Leben verflucht war, von Anfang an. Dennoch hielt er gegen diesen erdrückenden Gedanken an, hielt sich selbst vor Augen, wie viel Glück er doch trotz allem hatte: Er hatte eine Mutter, die für ihn da war und ihn mittlerweile über seinen Bruder stellte, er hatte Leyla, die versuchte, ihm Farben zu zeigen und er hatte Alpha, der so von Liebe erfüllt war, dass es fast schon weh tat. Er hatte so viel Gutes in seinem Leben, dass das Schlechte – zumindest in diesem Moment – total unwichtig und klein erschien. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht.
„Warum lächelst du so?", fragte Leyla.
„Ich bin einfach nur so froh, dass ich dieses ganze Trara nicht allein durchstehen muss.", antwortete er leise und noch während er es aussprach, bereute er es. Was, wenn sie das so auffasste, dass er davon ausging, sie würde bis zum Ende – und vielleicht sogar darüber hinaus – bei ihm bleiben, obwohl keiner von ihnen wusste, wie lange Simon noch Probleme bereiten würde?
„Natürlich musst du das nicht, Milan, ich bin für dich da, immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und Alpha auch. Mach dir da mal keine Sorgen. Wir stehen das zusammen durch, egal, wie lange es auch dauern mag."
Mit dieser Antwort nahm sie ihm jede Angst und Milan ergriff eine Welle der Dankbarkeit. „Ich glaube, Alpha muss mal", lachte sie schließlich und ihr Lachen löste in ihm ein Gefühl der Leichtigkeit aus.
„Dann mal los", erwiderte er ebenso lachend.

Sie liefen – wie immer – durch den Park, eine andereStrecke traute sich Milan noch nicht zu, solange Alpha noch nicht ausgebildetwar. Für Leyla schien das okay zu sein.
„Morgen ist Silvester", sagte sie plötzlich.
„Morgen schon?", fragte er erstaunt, es erschien ihm noch so weit entfernt –und Weihnachten war doch gerade erst gewesen.
„Ja", bestätigte sie und lachte leise.
„Verrückt, wie schnell die Zeit vergeht", murmelte Milan und rieb sich dieAugen. Plötzlich fühlte er sich schrecklich müde. Als er die Hand wieder sinkenließ, stieß er dabei an Leylas. Aus irgendeinem Grund hatte er erwartet, dassdieser Moment wie eine dieser berühmten Sekunden aus Filmen werden wurde, inder sich die Finger berührten und beide zurückschreckten. Gesehen hatte er dasnatürlich nie, nur davon gehört, aber er hatte es sich trotzdem vorstellenkönnen. Und irgendwie war er enttäuscht, dass er diesen Moment nicht hatte. Erfragte sich, ob das etwas über seine verwirrenden Gefühle für Leyla aussagteoder ob dieser Moment einfach nur eine Erfindung waren, eine Lüge, die es soniemals gab. Milan kam die wahnwitzige Idee, diesen Moment einfach zuerzwingen. Also ließ er seine Hand ein wenig baumeln, wodurch sich ihre Händeimmer wieder wie zufällig berührten – noch etwas, was es ständig in Filmen gab– bis er letztlich jeden Mut zusammenfasste und nach ihrer Hand griff. Erwusste nicht, warum ihn das so viel Überwindung gekostet hatte, sie hieltensich ja nicht zum ersten Mal an den Händen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dassihm diese Geste jedes Mal mehr Mut abverlangte, so schwachsinnig es auch klang.Sein Herz schlug schneller, nicht sehr viel, aber dennoch. Verzweifeltversuchte er, sich dagegen zu wehren, erfolgslos. Angestrengt unterdrückte erein Seufzen.
„Da ist unsere Bank!", rief Leyla und klang ungewohnt aufgeregt, wie einkleines Kind. Beinahe ungeduldig zerrte sie ihn zur Bank und Milan wollte erstnoch widersprechen, ihr sagen, dass sie doch auf Alpha aufpassen mussten, dochdann hörte er, wie der Vierbeiner neben ihnen vorbeirannte und voran lief.Leyla lachte.    

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