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Alles in ihm schrie, nicht weiterzureden.
Es war, als wäre seine Vergangenheit eine eigene Person, deren Geheimnisse er ausplauderte, die ihn bedrohte, obwohl sie eingesperrt war, in einem Käfig, gebaut aus Glas. Sie hätte jederzeit ausbrechen können, aber sie hatte es nicht gewollt, sie wollte für sich bleiben. Und das nahm Milan ihr gerade.
„Na ja, ich kann es nicht ändern. Auf jeden Fall hat meine Mutter dann so getan, als wäre das alles okay. Als wäre es das Normalste der Welt – so hab ich es zumindest in Erinnerung, aber es würde mich nicht wundern, wenn mein Hirn diese Erinnerungen manipuliert hat. Ich war ja gerade erst ein Jahr alt, als mein Vater uns verlassen hat. Und meine ganze Kindheit lang hat Simon mich immer wieder...geärgert. Meine Mutter dachte, dass das unter Brüdern eben so ist...und ich kannte es ja auch nicht anders. Aber...je älter wir geworden sind, desto gemeiner wurde Simon. Ich glaube, mit jedem Tag ist sein...Hass...oder vielleicht...vielleicht war es auch nur Wut, keine Ahnung...auf mich größer geworden. Es wurde immer schlimmer, aber ich...keine Ahnung, ich dachte, ich bin zu empfindlich und nehm das alles viel zu persönlich. Bis...na ja...bis zum 18. Geburtstag von Simon, als er völlig besoffen und wahrscheinlich auch zugekifft total ausgerastet ist und..." Er brach ab. Mehr konnte er nicht sagen, er schaffte es einfach nicht. So sehr er es auch wollte, es war, als hätte sich die Vergangenheit aus dem gläsernen Käfig gestürzt und hielt ihm nun von innen den Mund zu.
„Oh, Milan", rief Leyla aus, sie klang bestürzt und schockiert, und er spürte ihre plötzliche, heftige Umarmung. „Das tut mir alles so schrecklich leid", murmelte sie leise, direkt in sein Ohr. Milan schwieg, er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Verzweifelt versuchte er, die einzelnen Wortfetzen, die in seinem Kopf herumschwirrten, zu fassen zu kriegen und daraus einen Satz zu bilden, der zumindest einigermaßen Sinn ergab. Erfolgslos. Eine plötzliche Welle der Erschöpfung überrollte ihn. Er wollte einfach nur noch in sein Bett und schlafen. Oder zumindest seine Ruhe haben. Allerdings wusste er, dass er sich dadurch nur noch tiefer in seine dunklen, schweren Gedanken verkriechen würde und Leyla half ihm dabei, dagegen anzukämpfen. Sie ließ sie zwar nicht verschwinden, aber manchmal fiel es ihm leichter, mit diesen Gedanken umzugehen, wenn sie bei ihm war – und das war besser als nichts. Und obwohl er noch nie in seinem Leben Licht gesehen hatte, glaubte er, zu verstehen, was die Leute meinten, wenn sie sagten: „Sie ist das Licht in meinem Leben". „Können wir nach Hause? Mir ist kalt", bat er sie.
„Natürlich", erwiderte sie, er hörte, wie das Holz leicht knarrte und spürte schließlich ihre Hand an seiner. Er war ihr so unendlich dankbar.

„Wenn du willst, kannst du gerne noch bleiben",lächelte er, auf einmal war er irgendwie gehemmt, ohne zu wissen, weshalb.
„Klar will ich das, du Dummkopf", lachte sie und ihr Lachen löste in ihm dasBedürfnis aus, durchs Zimmer zu schweben.
„Stört es dich, wenn ich mich hinlege? Ich hab Kopfschmerzen"
Kaum hatte er das ausgesprochen, hätte er sich am liebsten geohrfeigt, sodämlich kam er sich vor.
„Nein, kein Problem.", erwiderte Leyla.
Umständlich kletterte er ins Bett und legte sich hin.
„Alles okay?", fragte sie nach ein paar Minuten Stille und er fragte sich, obsie sich hingesetzt hatte oder einfach in der Gegend herumstand.
„Es war einfach nur ein anstrengender Tag. Ich würde am liebsten schlafen, aberich will nicht unhöflich oder dreist sein. Und ich hab sowieso schon einschlechtes Gewissen, weil ich hier im Bett liege und du...keine Ahnung, sitzt du?Oder stehst du?", erklärte er.
„Ich sitze auf dem Boden, alles gut", meinte sie.
„Ist das nicht kalt?", fragte er und bot ihr dann schließlich an, dass sie sichruhig zu ihm aufs Bett setzen könnte.
„Oder du legst dich dazu und..." Er biss sich auf die Lippen. „Oh Gott, tut mirleid, ich kling wie einer, der ständig Mädchen vögeln will, oder?"
Leyla fing an zu lachen.
„Ein bisschen vielleicht. Aber ist schon okay, ich glaube nicht, dass du sodrauf bist."
„Mist, dabei bin ich doch genauso! Ich muss wohl an meinerPlayer-Glaubwürdigkeit arbeiten"
Er grinste und sein Herz klopfte schneller, als er merkte, dass sie sich nebenihn legte und ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Verdammt, verdammt, verdammt, das ist nicht gut. Milan wollte dasnicht. Er hatte keine Ahnung vom Verliebtsein, aber er war sich sicher, dass esgenau so anfing. Und er wollte sich nicht verlieben. Er wollte nicht zu denLeuten gehören, die sich direkt in die nächste Person verliebten, die ihnenetwas mehr Aufmerksamkeit schenkte. Aber allem Anschein nach schien er doch zueben diesen Personen zu gehören. Für einen Moment dachte er darüber nach, so zutun, als läge er unbequem und eine neue Position zu suchen – und zwar eine, beider Leyla ihren Kopf nicht an seine Schulter lehnen konnte. Aber er hatteAngst, dass er sie damit beleidigen könnte, immerhin war Leyla nicht blöd undwürde eins und eins ganz schnell zusammenzählen können. Also blieb Milan liegenund versuchte, sich einzureden, dass er nicht dabei war, sich in Leyla zuverlieben. Frustriert starrte er in die Dunkelheit seines Blickfeldes.
„Milan", sagte Leyla irgendwann leise.
„Ja?", erwiderte er.
„Übermorgen ist schon Weihnachten"
„Warte, was? Übermorgen schon? Ich hab doch noch gar kein Geschenk für dich!",rief er erschrocken aus.
„Du musst mir doch nichts schenken! Mir reicht es vollkommen, wenn du und deineMutter zu uns kommen", schimpfte sie, aber Milan hörte sie lächeln. Wiedereinmal wünschte er sich, er könnte sehen. Siesehen. Sehen, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. Sehen, wie ihreAugen strahlten, wenn sie lachte. Sehen, wie sie sich durch die Haare fuhr.Sehen, wie sich ihr Gesicht veränderte und bewegte, während sie sprach. Aberihm wurde – wieder einmal – bewusst, dass er das niemals können würde underneut stieg der Frust in ihm hoch. Esist alles okay, schlich sich sein Mantra, bestehend aus Leylas Worten, inden Vordergrund seiner Gedanken und auch, wenn es ihn beruhigte, gab es docheinen kleinen Teil, der sich darüber ärgerte, ein Teil, der verhindern wollte,dass Milan sich von Leyla emotional abhängig machte, sich in sie verliebte. Aberdieser Teil war klein und schwach, Milan bezweifelte, dass er großartig etwasausrichten konnte.     

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