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Es war ihr ein Rätsel, wie sie es über sich gebracht hatte, ihn zur Tür zu begleiten, zusammen mit seiner Mutter, die sich wieder beruhigt hatte, und Alpha, der den beiden fröhlich hinterhergelaufen war.
„Alles okay?", fragte ihre Mutter und sah sie skeptisch an.
„Ja, klar", erwiderte Leyla abweisend und ließ sich neben ihre Mutter aufs Sofa fallen.
„So wirkst du aber nicht unbedingt. Willst du drüber reden?"
Für einen Moment wollte Leyla verneinen, aber dann entschied sie sich um.
„Ach, Milan hat nur erzählt, warum er seiner Mutter nicht geglaubt hat, dass sie sich Sorgen gemacht hat und da meinte ich dann, dass er nicht vergessen darf, wie anstrengend es sein kann, sich um einen Blinden zu kümmern. Er ist total ausgeflippt und meinte, ich hätte gar keine Ahnung", erzählte sie betrübt.
„Hast du es ihm erzählt?", fragte ihre Mutter.
Leyla schüttelte den Kopf. Wie gerne hätte sie es ihm erzählt. Aber sie konnte es einfach nicht. Genau das sagte sie auch ihrer Mutter, die verständnisvoll nickte.
„Lass dir alle Zeit, die du brauchst. Und wenn es noch zehn Jahre dauert, dann ist das auch okay. Er war für niemanden leicht. Mach dir keinen Kopf", erwiderte Christiane beruhigend und Leyla nickte einfach nur. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.
„Übrigens hat Sabine – Milans Mutter – gefragt, ob sie Silvester mit uns verbringen könnten, sie fand es an Weihnachten so schön. Trotz deines kleinen Zusammenbruchs. Ich hab sie eingeladen. Aber wenn du willst, geb ich Bescheid, dass du das nicht möchtest?", wechselte ihre Mutter das Thema.
„Nein, schon okay. Milan und ich wollten sowieso das neue Jahr gemeinsam beginnen", erwiderte das Mädchen und ihre Mutter lächelte verschwörerisch. Leyla rollte mit den Augen.

Als sie unter der Dusche stand, konnte sie nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie Milan gesagt hatte, dass sie das Beste war, das ihm dieses Jahr passiert war. Und wie er ihr vorgeworfen hatte, nicht zu wissen, wie es war, sich um einen Blinden zu kümmern. Dabei stieg Wut in ihr auf. Andererseits – woher sollte er es denn wissen? Erschöpft atmete sie tief durch. Sie wollte nicht mehr nachdenken, sie hatte das Gefühl, dass es in diesem Moment nichts Anstrengenderes gab. Aber Gedanken waren nun mal – genauer betrachtet – chemische Prozesse im Gehirn und wie sollte man sowas stoppen, einfach so? Selbst ihre übliche Taktik, Bewegung, war im Endeffekt nur eine Lüge. Aber das würde sie niemals jemandem eingestehen. Das warme Wasser prasselte noch immer auf sie nieder. Wie lang stand sie hier schon, völlig in Gedanken versunken? Ein Kratzen an der Tür riss sie zurück in die Realität und ein hohes, kurzes Bellen ließ sie zusammenzucken. Erst wollte sie aus der Dusche steigen und nach dem Hund, vermutlich Amy, draußen gucken, dann entschied sie sich aber dagegen. Stattdessen griff sie zur Shampooflasche und wusch sich die Haare.
Als sie aus der Dusche stieg, beschlug der Spiegel des Badschrankes vom heißen Wasserdampf. Eine sanfte Wolke aus Maracuja begleitete sie. Leyla wickelte sich in ein Handtuch und öffnete die Tür, bevor sie sich umzog, damit Amy – oder wer auch immer dort draußen stand – hereinkonnte und sah, dass bei ihr alles in Ordnung war. Zu ihrer Überraschung blickte sie Amor an. Der trottete gemächlich ins Bad, sah sich um, schaute zu Leyla und ging dann wieder. Etwas verwirrt, aber dennoch lachend sah Leyla ihm hinterher, dann zog sie sich an.

Ein paar Stunden später betrat sie das Zimmer, sie wollte noch ein bisschen Ordnung schaffen, bevor Milan kam – dabei würde er ihr Chaos ja ohnehin nicht wahrnehmen. Dennoch würde sie sich besser fühlen.
Kurze Zeit darauf fiel ihr etwas in die Hände – die Spieluhr, die ihr Milan zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie schluckte, ihre Hand blieb an dem kleinen Aufzieher hängen, ihre Gedanken schweiften ab. Eigentlich war sie ja ganz hübsch. Aber die schmerzhafte Erinnerung überschattete es, es rückte in den Hintergrund. Leyla stand vermutlich nur ein oder zwei Minuten so regungslos da, aber es fühlte sich an, als wäre sie stundenlang in ihren Gedanken gefangen gewesen.
„Hey", riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken, holte sie zurück in die Gegenwart. Irritiert zuckte sie zusammen, aber die goldschimmernden Seifenblasen, die im gleichen Moment durch den Raum schwebten, beruhigten sie. Sie drehte sich um.
„Milan", sagte sie überrascht.
„Ich bin alleine hochgekommen Es hat ein bisschen gedauert, aber ich hab's geschafft, Alpha hat mir ein bisschen geholfen", verkündete er stolz und Leyla strahlte, sie war mindestens genauso stolz auf ihn. Doch dann trübte sich Milans Gesicht wieder.
„Es ist doch okay, dass ich hier bin, oder?", fragte er verunsichert. Für einen Augenblick war Leyla irritiert, fragte sich, wieso es nicht okay sein sollte. Dann fiel es ihr wieder ein. „Natürlich ist es okay!", rief sie aus und machte ein paar Schritte auf ihn zu, berührte ihn vorsichtig am Arm, damit er wusste, wie nah sie ihm war. Ein erleichtertes lächeln umspielte seine Lippen.
„Ich hab mich blöd verhalten, tut mir leid", sagte sie leise.
„Hast du nicht. Ich war der, der unfair war", erwiderte Milan.
Dabei blieb es, mehr wurde für einen Augenblick nicht gesagt. Leyla sah ihn an und schaffte es sogar, ihm in die Augen zu blicken. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie schön seine braunen Augen eigentlich waren. Sie merkte, dass er trotz allem immer noch verunsichert war. Irgendein Muskel in ihr zuckte und sie umarmte ihn. Überrascht zuckte Milan zusammen und sie lachte leise.
„Tut mir leid", flüsterte sie.
„Schon okay", erwiderte er.

Das Essen verlief reibungslos. Frau Rattner saherholter und irgendwie lebendiger aus als am Morgen und vielleicht bildete siesich das ein, aber Leyla hatte den Eindruck, dass Milan sich immer sicherer imHaus fühlte, was sich vor allem beim Essen bemerkbar machte.
„Wie spät ist es?", fragte Milan irgendwann.
„23.30 Uhr", antwortete Leylas Mutter nach einem Blick auf die Uhr.
„Haben wir Feuerwerk?", wandte sich Milans Mutter an sie.
„Nein. Die Hunde, also zumindest Amy, mögen das nicht, deswegen verzichten wirdarauf."
Milan nickte verständnisvoll und klopfte leise mit den Fingern gegen dasStuhlbein. Freudig kam Alpha an, berührte den Jungen mit der Schnauze, um ihmzu bedeuten, dass er da war und legte sich ihm dann zu Füßen. Christianelachte.
„Die zwei sind ja ein Herz und eine Seele"
Frau Rattner lächelte.
„Es ist so schön, zu sehen, dass Milan nicht mehr allein ist"
Leyla sah, wie er sich auf die Lippe biss, um nichts zu sagen. Sie fragte sich,was ihm durch den Kopf ging. Behutsam griff sie nach seiner Hand und drücktesie leicht. Vielleicht bildete sie sich es ein, vielleicht war es ja nurWunschdenken, aber sie glaubte, zu merken, wie Milan sich wieder ein bisschenentspannte. Bei dem Gedanken daran, dass sie auf ihn eine solche Wirkung habenkönnte, musste sie lächeln.    

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