Bis morgen, hatte er gesagt, bis morgen.
Schon jetzt bereute Milan diese Worte. Er wollte nicht bis morgen warten, er wäre am liebsten die ganze Zeit bei Leyla geblieben, die alles so strahlender und heller machte. Als er den Flur betreten hatte, war ihm alles dunkler erschienen, ein wenig zumindest. Obwohl Simon inzwischen weg war, hing seine vorherige Anwesenheit immer noch in der Luft und schien Milans Lunge zu vergiften wie Rauch bei einem Hausbrand. Wenn er doch wenigstens Alpha bei sich hätte. Alpha, der nicht ganz Leyla war, nicht eine ganz so beruhigende Wirkung hatte, aber doch ziemlich nah herankam. Aber er war – in seinem Gehirn – unweigerlich mit dem Nachbarsmädchen verknüpft. Und Alpha war ein Hund. Hunde wussten meistens, was zu tun war.
Bis morgen, hatte er gesagt, bis morgen.
Für einen Moment dachte er darüber nach, um 00.01 Uhr an ihrer Tür zu klingeln und zu sagen „Hey, es ist ein neuer Tag. Heute ist morgen."
Aber das kam ihm lächerlich vor, dumm, kindisch. Also ließ er es bleiben. Stattdessen lag er im Bett und wälzte sich hin und her, versuchte, endlich Schlaf zu finden – vergeblich. Noch immer hing Simons Anwesenheit in den Wänden fest, hatte sich auf jeden freien Platz niedergelassen. Noch immer erschien Milan alles dunkler. Der Schmerz wurde größer, mit jeder Sekunde. Und immer wieder hämmerten diese Worte in seinem Kopf – bis morgen. Frustriert schlug er ein paar Mal mit den Handballen gegen seine Schläfen, in der Hoffnung, dass sein Kopf dadurch endlich Ruhe gab. Aber das tat er nicht. Warum auch? Milan war seinen Gedanken schutzlos ausgeliefert und der Schmerz, ausgelöst und verstärkt durch die Begegnung mit seinem Bruder zuvor machte es nicht besser, keineswegs. Wie es Leyla wohl gerade ging? Lag Alpha neben ihr, hatte eine unbewusst beruhigende Wirkung auf sie, eine Wirkung, die er jetzt nur allzu gut gebrauchen konnte? Er wünschte sich Klaviermusik, die ebenso beruhigend war. Klaviermusik, die Blau bedeutete. Er wusste zwar immer noch nicht genau, wie Blau aussah, aber er würde diese Farbe nun immer mit den Tönen eines Pianos verbinden und das reichte ihm. Und er kannte ja jetzt auch Weiß, soweit jemand wie er nun mal Weiß kennen konnte. Plötzlich ergriff ihn eine kribbelnde Vorfreude, er konnte es kaum abwarten, noch mehr Farben „sehen" zu können. Milan kam sich vor wie ein kleines Kind, aber das war ihm egal. Selbst wenn er zuvor müde gewesen war, jetzt war er definitiv wach und konnte es auch kaum erwarten, Leyla wieder zu hören, ihrer Stimme lauschen zu können. Er kam sich schrecklich blöd vor, seine Laune so sehr von einer einzigen Person abhängig zu machen.Er saß wieder auf seiner Bank und wartete. Wartete aufLeyla, die er heute noch nicht gehört hatte. Nach dem Frühstück und auch aufdem Hinweg war er versucht gewesen, bei ihr zu klingeln, sie zu fragen, ob siemit ihm Zeit verbringen wollte. Beides hatte er wieder verworfen, sie warwahrscheinlich sowieso in der Schule. Es hätte also ohnehin keinen Sinngemacht. Seine innere Uhr sagte ihm, dass es gegen 11 Uhr war – selbst für ihnwar das eine frühe Zeit auf der Bank. Es kam selten vor, dass er bereitsvormittags hier saß, aber er musste sich ablenken, irgendwie. Und er wolltesich Leyla ja auch nicht aufdrängen. Milan saß eine ganze Weile nur herum, hingseinen Gedanken nach und zuckte zusammen, als ihn jemand ansprach.
„Milan, bist du es?"
Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie anfangs nicht ganz zuordnen.
„Ich bin's, Christiane"
Auch dieser Name kam ihm bekannt vor, aber weiter brachte ihn das trotzdemnicht
„Leylas Mutter", fügte die Frau hinzu und seine Miene hellte sich auf.
„Ach, jetzt. Tut mir leid, ich hab Sie nicht gleich erkannt.", entschuldigte ersich.
„Gott, Junge, sag ruhig Du. Und das ist doch okay, dass du mich nicht gleicherkannt hast, ich meine, nur die Stimme und nicht das Ge..."
Sie brach ab, schien nicht zu wissen, ob es für Milan okay war, so darüber zureden.
„Stimmt. Nur die Stimme zu hören, ohne je ein Gesicht dazu gesehen zu haben,macht es wirklich schwer.", lachte er und fügte dann hinzu: „Und reden Sie...redruhig drüber, ist okay. Ich komm damit klar"
Erleichtert lachte sein Gegenüber auf.
„Ist Leyla noch in der Schule?", fragte er. Eigentlich hatte er nicht nach ihrfragen wollte, aber die Frage war ihm rausgerutscht.
„Es sind Ferien", erwiderte sie überrascht.
„Hat sie dir das nicht gesagt?"
„Nein"
Aus irgendeinem Grund verletzte ihn das, dabei gab es doch bestimmt eineErklärung dafür, dass sie ihm das nicht gesagt hatte. Nein, eigentlich gab esja auch gar keinen Grund, ihm das zu sagen. Er war schlichtweg zu egoistisch,klammerte sich an eine Person, einfach nur, weil sie ihm Zuwendung schenkte.Ging es denn eigentlich noch kindischer? Sich an irgendjemanden hängen, einfachder Zuneigung wegen und dann beleidigt sein, weil sie ihm nicht alles erzählte?Wie alt war er gleich? 19? Selbst er zweifelte das in diesem Moment an, er kamsich vor 5. Lächerlich.
„Könnt...Kannst du sie von mir grüßen?", fragte er Christiane.
„Klar!", antwortete sie, genauso fröhlich, wie er sie kennengelernt hatte. Obsie immer so positiv war? So selbstbewusst? Und war das nur eine äußereFassade? Plötzlich wollte Milan Leylas Mutter verstehen, herausfinden, welche Eigenschaften sie an ihre Tochterweitergegeben hatte. Und wieder kam er sich seltsam fremd vor. Welcher Menschwollte denn solche Dinge herausfinden? Vermutlich keiner.
„Oder...weißt du was? Komm einfach mit!", meinte sie dann und er konnte deutlichhören, wie sehr sie strahlte.
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Farbenblind
Novela Juvenil»„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. „Weiß", erwiderte sie. „Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd. „Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass...