Das warme Fell von Alpha beruhigte ihn, sorgte dafür, dass sein Herz weniger raste, allerdings nur für eine Sekunde. Er kämpfte mit den Tränen, seine Ohren sendeten nur ein Rauschen an das Gehirn weiter, wie ein Radio, das schlechten Empfang hatte, selten hatte er sich so dermaßen hilflos gefühlt. Und er war unfassbar froh, dass Leyla zufällig vorbeigekommen war und Alpha ihm zur Seite gestanden hatte. Was genau sonst passiert war, hatte er nicht richtig wahrgenommen und er wusste nicht, ob das nicht vielleicht auch besser so war. Sein Kopf schmerzte, er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, zu viele Emotionen prasselten auf ihn ein, zu viele Gedanken, er hatte das Gefühl, daran zu ersticken. Alles an ihm war angespannt, jede Faser schien kurz vorm Zerreißen zu sein. Er wollte nach Leyla rufen, aber er hatte zu große Angst, dass Simon noch da war, ihn hören und auslachen konnte, weshalb er nur ein leises, klägliches, wehleidiges, krächzendes „Leyla" herausbekam. Es war mehr ein Laut als ein Wort und Alpha fing sofort an, besorgt zu winseln und dann über sein Gesicht zu lecken. Er hörte Schritte, wurde noch nervöser und hielt den Atem an, als die Schritte vor ihm stoppten. Erst, als Leyla „Milan, alles in Ordnung?" fragte, stieß er erleichtert die Luft aus. Vielleicht war es Zufall, vielleicht hatte sie ihn aber doch gehört. Im Grunde genommen war es ihm egal, es zählte nur, dass sie da war. Einen Ton brachte er trotzdem nicht heraus, zu groß war die Angst, dass Simon und das fremde Mädchen – wer war sie gewesen? Simons Freundin? – noch da waren.
„Keine Angst, sie sind schon weg", meinte seine Nachbarin, als hätte sie seine Gedanken lesen können.
„Danke", flüsterte Milan, mehr brachte er nicht heraus.
„Du musst zum Arzt und zwar schnell"
Erst, nachdem sie das gesagt hatte, spürte er, wie sehr ihm alles weh tat. Das Adrenalin, das dafür gesorgt hatte, dass er jeglichen Schmerz ausgeblendet hatte, war verflogen. Umständlich und nur mit Leylas Hilfe stand er auf.
„Wo ist mein Blindenstock?", fragte er und obwohl er das Ding hasste, betete er, dass er noch da war. Seltsam, wie sehr man an sonst so gehassten Dingen hing, wenn die Möglichkeit bestand, dass sie nicht mehr da waren.
„Den hab ich, aber ich bezweifle, dass du den noch benutzen kannst", erwiderte Leyla und drückte ihm vorsichtig den Blindenstock in die Hand. Milan betastete ihn langsam, mit jeder Delle wuchs sein Entsetzen. Er hatte entfernt mitbekommen, dass jemand – er vermutete, dass es Simon gewesen war – mit etwas auf den Boden geschlagen hatte. Obwohl es naheliegend war, hätte er nicht gedacht, dass das metallene, scheppernde Geräusch sein Blindenstock gewesen war. Eine Sekunde später kam ihm der Gedanke, dass Simon den Metallstab auch auf ihn hätte niedersausen lassen können. Erneut kämpfte er mit den Tränen, Fassungslosigkeit machte sich in ihm breit, er versuchte zu verstehen, wie Simon nur so viel Wut aufgestaut haben konnte – was bedeutete, dass sein Wutspeicher noch lange nicht verbraucht war. Oder war die Wut mittlerweile in etwas Schlimmeres, Stärkeres umgeschlagen? In Hass? Aber musste man nicht jemanden lieben, bevor man ihn wirklich hassen konnte? Hatte Simon seinen Bruder je wirklich geliebt? Die vielen Fragen, die in seinem Kopf herumtanzten, bereiteten ihn Kopfschmerzen.
„Ich...kannst du mich zum Arzt begleiten?", fragte er Leyla zögerlich. Einen Augenblick war Stille, man hörte nur, wie ihre Jacke ein wenig raschelte, was ihn verunsicherte, dann sagte sie schnell: „Ja, natürlich." Erleichtert lächelte Milan und hoffte, dass er sein Gesicht zumindest ansatzweise in ihre Richtung gewandt hatte. Ihm war schwindelig, er hatte keine wirkliche Orientierung. Als sie nach seiner Hand griff, merkte er, dass er in eine völlig falsche Richtung geblickt hatte.
„Ist es okay, wenn wir erstmal die Hunde nach Hause bringen?", fragte sie und er stimmte zu.Als Leyla die Tür aufschloss, um die Hunde reinzulassen, hörte er, wie sie immer wieder fluchte: „Nein, Alpha. Du gehst jetzt auch nach Hause. Alpha! Du kannst nicht mit!" Er lachte und stellte lächelnd fest, dass auch Leyla leicht schnaubte, was er als amüsiertes Geräusch interpretierte. Es dauerte noch eine Weile, bis Alpha nachgab und – dem Krallenklackern zu urteilen – in die Wohnung schlich.
„Jetzt ist er beleidigt", lachte Leyla und griff, wie zuvor schon, nach seiner Hand, als wäre es das Normalste der Welt. Diese Selbstverständlichkeit irritierte ihn etwas, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
„Wohin müssen wir?", fragte sie und er nannte ihr die Adresse. Sie liefen zusammen dorthin, wobei Leyla, die ihn ja führen musste, sich ein paar Mal verlief und falsch abbog.
„Oh Mann, ich hab wirklich gar keine Orientierung! Tut mir leid", stöhnte sie jedes Mal frustriert auf, doch Milan hatte damit gar kein Problem. Je öfter sie sich verlief, desto länger konnte er ihre Hand halten, auch, wenn er das niemals zugegeben hätte. Abgesehen von Leylas Jammerei über ihren fehlenden Orientierungssinn schwiegen sie, bis Milan es schließlich nicht mehr aushielt.
„Leyla", sagte er, klang ernster als beabsichtigt, „was ist eigentlich genau passiert?"
Für einen Moment blieb sie still, dann erwiderte sie: „Das gleiche könnte ich dich eigentlich auch fragen. Ich hab ja nicht alles mitbekommen."
Wieder Schweigen, es war, als würden beide darauf warten, dass der jeweils andere anfing. Schließlich fing Leyla an, zu erzählen: „Ich wollte dich eigentlich zu Hause abholen, damit wir mit den Hunden durch den Park spazieren gehen können. Aber deine Mutter meinte, dass du schon weg warst, deswegen bin ich alleine los und auf dem Weg hab ich dann gesehen, wie du auf dem Boden gelegen hast und Simon und Charlotte – Simons Freundin – dich ausgelacht und fertiggemacht haben. Simon hatte den Blindenstock" – unwillkürlich krallte Milan sich an den verbeulten Blindenstock, den er in der freien Hand hielt, ohne ihn zu benutzen, denn nutzlos war er ohnehin – „und...keine Ahnung, was genau er vorhatte, aber ich schätze, dass er dich damit verprügeln wollte."
Er zuckte zusammen, dann war die Vorstellung zuvor, wie das Metall ihn traf, gar nicht mal so unwahrscheinlich gewesen.
„Aber das hat er nicht", meinte er dann, fragte sich, was passiert war, ob irgendeiner der Hunde etwas getan hatte, um ihn zu beschützen. Dein Scheißköter hat meinen Freund angegriffen, plötzlich kamen ihn diese Worte in den Sinn, dabei war er sich nicht mal sicher, ob er sie wirklich gehört hatte, die Bruchstücke, die er mitbekommen hatte, wirbelten mit tausend anderen Erinnerungsfetzen durcheinander.
„Stimmt, hat er nicht", fuhr Leyla fort, „Amy ist dazwischengegangen. Hat ihn umgestoßen, mehr nicht. Charlotte hat einfach übertrieben. Amy wollte dich beschützen, hat Simon umgeworfen und ihm den Blindenstock weggenommen, mehr nicht, keine Sorge."
Ein Lächeln umspielte Milans Mundwinkel, Amy war eine gute Seele, genauso wie Alpha und Leyla.
„Na ja, irgendwie hat dein Bruder es dann doch noch geschafft, sich den Blindenstock wiederzuholen, frag mich nicht wie, es ging alles viel zu schnell. Und dann hat er sich damit vor dich gestellt und im ersten Moment dachte ich, er will dich wirklich verprügeln. Aber stattdessen hat er den Boden neben dir verdroschen. Und na ja, das Endergebnis kennst du ja."
Erneutes Schweigen trat ein, das musste Milan erst einmal sacken lassen.
„Darf ich fragen, wie es überhaupt so weit kommen konnte?", fragte sie ihn schließlich.
„Ich weiß es selbst nicht so genau, um ehrlich zu sein", murmelte er, „ich bin zum Park gegangen und dann hab ich nur gehört, wie Simon mich gerufen hat, was mich total gewundert hat und gerade, als ich was sagen wollte, hat er mich geschubst und ich bin auf den Boden gefallen. Er und seine Freundin – wie hieß sie gleich? – haben angefangen, mich zu beleidigen. Und bevor irgendwas Schlimmeres passieren konnte, bist du zum Glück schon gekommen."
Wie zur Bestätigung, dass sie das jederzeit wieder tun würde, drückte sie einmal kurz seine Hand.
„Wir sind da", sagte sie schließlich und blieb stehen.Nach einer gefühlten Ewigkeit, die sie im Wartezimmerverbrachten, kamen sie endlich dran. Leyla führte Milan, der, aus ihmunerklärlichen Gründen, noch immer seinen Blindenstock umklammerte, behutsamdurch die Gänge ins Untersuchungszimmer.
Als Milan das Zimmer betrat, roch es irgendwie nach Desinfektionsmittel, Gummiund verwelkten Blumen. Ihm rutschte der Stock aus der Hand und er fielklackernd zu Boden. „Ich...tut mir leid", murmelte Milan beschämt und wusstenicht genau, wie er sich verhalten sollte.
„Lass nur, ich mach das", meinte Leyla.
„Herr Rattner, hallo! Lange nicht mehr gesehen!", tönte die Stimme desHausarztes, Dr. Grunsch, in sein Ohr, „oh je, was ist denn mit Ihnen passiert?"
„Ich...bin gestürzt", sagte Milan lahm. Er hatte keine Lust seinem Arzt die ganzeGeschichte mit Simon zu erzählen.
„Hm, ich verstehe, jaja" Der Mann klang beschäftigt, was Milan verunsicherte.
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Farbenblind
Teen Fiction»„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. „Weiß", erwiderte sie. „Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd. „Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass...