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Die Worte wollten nicht aus seinem Kopf verschwinden. Sie hallten in seinem Schädel, es entstand ein Echo nach dem anderem. Er wollte, dass es aufhörte. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken. Und bildete er sich das ein oder wurde der Satz immer lauter?
Lieber Simon,
ich wünsche dir und deiner Mutter ein frohes neues Jahr!
Dad
Sein eigener Vater hatte ihn vergessen, wusste nicht mehr, dass Milan überhaupt existierte. Und obwohl Milan ihn nie wirklich gekannt hatte, tat es weh. Er war doch immerhin der Grund gewesen, warum sein Vater die Familie verlassen hatte oder etwa nicht? Andererseits – wenn sein Vater ihn vergessen hatte, bedeutete das dann nicht, dass Milan nicht der Grund dafür war, dass sein Vater abgehauen war? Hieß das dann nicht, es hatte einen anderen Grund gegeben? Die Frage, die sich ihm stellte, war, was nun davon war: Der Grund für ein vaterloses Leben zu sein, aber genau deshalb nicht vergessen zu werden oder nicht der Grund dafür zu sein, was aber gleichzeitig zu bedeuten schien, dass sein Vater nicht mal mehr wusste, dass er einen zweiten Sohn hatte?
Milan konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken. Er hatte das Gefühl, sein Kopf platzte bald.
Er versuchte, sich sein Mantra vor Augen zu halten.
Er schaffte es nicht.
Er wollte ihre Stimme hören, sich damit beruhigen.
Er durfte es nicht.
Verbot es sich.
Zu groß war die Angst, sie zu nerven. Zu groß war die Angst, dass sie dadurch auf Abstand ging. Zu groß war die Angst, sie zu verlieren. Milan kämpfte mit den Tränen, der Gedanke, Leyla verlieren zu können, ohne sie leben zu müssen, zerriss ihn. Er fragte sich, wie sein Leben gewesen war, bevor er sie getroffen hatte. Er konnte sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen. Wie hatte er das nur ausgehalten? Andererseits – da war sie nur die Nachbarin gewesen, irgendjemand. Er hatte nicht mal gewusst, dass da jemand lebte, der in seinem Alter war. Die letzten 19 Jahre kamen ihm plötzlich schrecklich verschwendet vor, sinnlos. Sein Leben war so trist gewesen, erfüllt von dem Schmerz, ohne Vater aufgewachsen zu sein, dem Schmerz, der Grund für Simons Wut und Verzweiflung zu sein.
Aber Leyla hatte wieder Licht in sein Leben gebracht. Sein dunkles, blindes Leben war so viel heller, seit er sie kannte. Seit er sie kannte, war alles okay, soweit eben alles okay sein konnte. Milan wusste, dass er sich in etwas hineinsteigerte, dass es falsch war, das Mädchen so derart zu idealisieren, aber in diesem Moment hatte er das Gefühl, dass sie sein Lebenssinn war.
Er vermisste sie. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken daran, wie ihr Lächeln klang, wie sie redete, wie behutsam sie immer mit ihm umging. Als wäre er zerbrechlich. Ihre Geduld überraschte ihn jedes Mal aufs Neue. Er fragte sich, ob sie ihn genauso vermisste, genauso intensiv an ihn dachte, wie er an sie. Und wenn ja, war sie in diesem Punkt genauso geduldig, wartete einfach? Und wenn ja, wie hielt sie das aus? Zerriss sie das nicht genauso sehr wie ihn? Er hatte so viele Fragen, die alle unbeantwortet blieben. Am liebsten hätte er sich auf den Weg zu ihr gemacht und sie gefragt.

Er saß auf der Bank, auf die er sich bis vor kurzem noch jeden Tag gesetzt hatte, bevor Leyla in sein Leben getreten und es verändert hatte. Milan saß dort, den Kopf in den Nacken gelegt, die kalte Januarsonne schien ihm ins Gesicht. Für einen Moment ärgerte er sich, dass er Alpha nicht mitgenommen hatte. Dann hätte er sich jetzt etwas, womit er sich beschäftigen, ablenken konnte. So aber war er seinen Gedanken machtlos ausgeliefert. Allerdings – vielleicht war es auch gut, sich mit seinen Gedanken, seinem Schmerz und seiner Sehnsucht auseinanderzusetzen. Vielleicht linderte es ja die Intensität, vielleicht ging es ihm dann besser. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wurde es ja auch nur noch schlimmer. Aber das Risiko musste er eingehen.
Die Zeit verging, Milan wusste nicht, wie lange er sich hier aufhielt, als er plötzlich hörte, wie jemand an ihm vorbeijoggte.
„Leyla?", rief er unsicher, aufgeregt, sein Herz raste.
Er erhielt keine Antwort und die Schritte verlangsamten auch nicht ihr Tempo. Vor Enttäuschung hätte er am liebsten geschrien. Er war sich plötzlich nicht mal mehr sicher, ob die Schritte überhaupt wirklich da gewesen waren oder ob sein Gehirn ihm lediglich einen Streich gespielt hatte. So verwirrt und von Sehnsucht erfüllt, wie er zurzeit war, würde ihn das absolut nicht wundern.    

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