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Überrascht sah Leyla Milan an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und dem Gesichtsausdruck Simons nach zu urteilen, hatte er das auch nicht. Nachdem die Überraschung verflogen war, musste sie ein Lachen unterdrücken, so absurd erschien ihr die ganze Situation. Einzig und allein Charlottes wütender Blick brachte sie dazu, sich zusammenzureißen. Auf einen Zickenkrieg in der Klasse konnte sie gut verzichten. Leyla hatte ein wenig das Zeitgefühl verloren, aber es waren gefühlte zehn Minuten verstrichen, seit Milan seinem Bruder gesagt hatte, er solle die Fresse halten und Leyla hatte kein großes Interesse daran, noch lange hier rumzusitzen. Wer wusste schon, wie lange Milans Bruder noch brauchen würde, bis er aus seiner augenscheinlichen Starre erwachte.
„Also, keine Ahnung, was ihr jetzt macht", sie sah dabei Charlotte fest an, „aber wir werden jetzt gehen. Schönen Tag noch"
Damit griff sie Milans Hand – und ignorierte die unangenehme Angespanntheit, die sie dabei, wie auch zuvor schon, überkam – und schnalzte mit der Zunge, um Alpha zu bedeuten, dass sie nun gehen würden. Der Hund schien ebenso verwirrt zu sein wie Simon, aber folgte ihr und Milan dennoch brav.
Nach ein paar Metern blieb Leyla stehen und lachte, ohne wirklich zu wissen, weshalb. Einen Augenblick später verstummte sie, als sie merkte, dass Milan nicht mitlachte. Stattdessen schwieg er und sie hatte das Gefühl, dass es ein düsteres, schweres Schweigen war.
„Alles okay?", fragte sie unsicher.
„Ja"
Seine Stimme, kalt und starr, verriet, dass er log. Aber was blieb ihr anderes übrig, als es einfach dabei zu belassen? Natürlich hätte sie weiter nachfragen können, aber das hätte ihre Begleitung vermutlich nur noch mehr gestresst.
„Willst du nach Hause?", fragte sie stattdessen leise und fühlte sich plötzlich irgendwie ungewollt.
Milan gab ein Geräusch von sich, das wohl so viel heißen sollte wie „Ja".
Auf dem Rückweg sagte niemand etwas, man hörte für eine Weile nur den Kies unter ihren Füßen knirschen und das leise metallene Klacken der Leine an der Halsbandöse. Obwohl die Atmosphäre irgendwie angespannt war, schaffte sie es, sich ein wenig zu entspannen.

Sie standen vor der Tür der Rattners und Leyla wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Die ganze Situation überforderte sie.
„Ich...ähm...", stotterte sie, ohne zu wissen, was sie eigentlich sagen wollte.
„Bitte umarm mich einfach", krächzte Milan.
„Okay", erwiderte sie leise und umarmte ihm, drückte ihn fest an sich.
Sie spürte, wie er seine Arme auch um sie legte, vorsichtig, ertastete, wo er ihr Rücken war, achtete darauf, dass er nicht zu weit nach oben, aber auch nicht zu weit nach unten rutschte, damit es nicht unangenehm oder seltsam wurde. Irgendwie brachte diese Behutsamkeit Leyla zum Lächeln. Schließlich fand er die richtige Position und er drückte sie ebenso fest an sich wie sie ihn. So standen sie da, eng umschlungen und Leyla verlor das Zeitgefühl. Wie lange standen sie so da? Sekunden? Minuten? Stunden? Jahre? Sie wusste es nicht und es war ihr auch egal. Als sie sich von ihm löste, war es, als wäre eine halbe Ewigkeit vergangen – und gleichzeitig, als wäre die Umarmung nicht lang genug gewesen.
„Tja, ich geh dann mal", murmelte sie, strich Alpha, der geduldig neben Milan saß, über den Kopf, sagte „Bis morgen, Alpha" und wandte sich danach ein wenig erschrocken an Milan: „Wir sehen uns doch morgen, oder?"
Am liebsten hätte sie sich dafür geohrfeigt, dass sie einfach davon ausging, dass die beiden sich morgen sehen würden.

Zuhause dachte sie darüber nach, wie sie den heutigenTag deuten sollte. Erst dieses Stressgefühl, als Milan ihre Hand gehalten hatteund dann hatte sie ihn umarmt und gar nicht mehr loslassen wollen. Was solltedas? Diese widersprüchlichen Gefühle machten sie noch wahnsinnig    

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