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Erst wusste sie nicht, wie sie anfangen sollte. Tausende Möglichkeiten wirbelten ihr durch den Kopf, aber keine schien ihr passend zu sein. Nach einem Moment, in dem sie auch noch ihren ganzen Mut – von dem nicht allzu vorhanden war – fassen musste, setzte sie schließlich an: „Ich kann dir helfen"
Überrascht fuhr Milans Kopf zu ihr herum.
„Meinst du das ernst?" Sie lachte auf, irgendwie verletzt.
„Warum sollte ich das nicht tun?"
Milan gab ein nachdenkliches Geräusch von sich.
„Ich...ich kann Töne sehen"
„Du meinst hören", korrigierte der Junge sie.
„Nein. Wenn irgendwo Musik läuft, sehe ich Farben und Formen"
Nervös rieb sie Alphas Kopf, dankte ihm innerlich dutzende Male, dass er nun auf ihrem Schoß war und ihr Halt gab. Sie fühlte sich, als würde sie in diesem Meer aus Ehrlichkeit ertrinken und die Unsicherheit wirbelte sie wie ein Sturm hin und her, als müsse er noch entscheiden, ob er sie zu einer rettenden Insel, die Glauben hieß, trieb oder eher in Richtung Küste, die den hässlichen, aber doch so vertrauten Namen Unglauben trug. Sie beobachtete den Blinden aus dem Augenwinkel heraus, der den Kopf sanft hin und her wog, als müsste er sich entscheiden, ob er ihr glaubte oder nicht. Was den Sturm in ihr nur noch stärker werden ließ.
„Ich weiß zwar nicht, wie du gerade guckst und ich glaube, dass der Gesichtsausdruck eine Menge ausmacht, aber...mein Gefühl sagt mir, dass du die Wahrheit sagst"
Erleichtert stieß Leyla Luft aus, die ganze Zeit über hatte sie den Atem angehalten und ihr drängte sich die Frage auf, wie sie es geschafft hatte, so lange auf neuen Sauerstoff verzichten zu können.
„Wie funktioniert das?", fragte er, plötzlich ganz interessiert und aufgeregt. „Also, ich meine...vielleicht hilft mir das ja wirklich ein bisschen!"
Die Art, wie er leicht auf dem Bett auf und ab hüpfte erinnerte sie an einen kleinen Jungen, was sie zum Lächeln brachte. Alpha jedoch schien das falsch zu interpretieren, setzte sich auf ihrem Schoß auf und leckte dem Jungen beruhigend die Hand.
„Alles gut, Alpha", lachte er und Leyla konnte nicht anders, als mitzulachen.
„Ich weiß nicht, wie genau es funktioniert", wandte sie sich dann an ihn, „ich weiß nur, dass ich, wenn ich ein bestimmtes Instrument höre, dazu eine bestimme Farbe vor Augen sehe und das auch immer in einer bestimmten Form. Ehrlich gesagt weiß ich gerade gar nicht, ob ich dir wirklich helfen kann. Ich kann's versuchen, aber...jeder sieht das auch anders. Also, jeder, der so ist wie ich."
Milan blieb für einen Moment still, dann sagte er: „Egal. Erzähl mir, wie du was siehst. Wenn es nicht funktioniert, ist das okay. Aber einen Versuch ist es wert."
Sein plötzlicher Enthusiasmus wirkte ansteckend und gab ihr das Gefühl, dass es auf jeden Fall richtig war, was sie da tat.
„Ich, ähm...ich würde aber ungern jetzt gleich alles erzählen. Was hältst du davon, wenn wir jeden Tag eine neue Farbe durchgehen? Ich glaube, dass das auch für dich besser ist. Also, dass du dich besser dann auf die einzelne Farbe konzentrieren kannst."
„Ja, das ergibt Sinn"
Milan blickte sie aus seinen braunen Augen an und sie bekam eine Gänsehaut. Hätte sie es nicht gewusst, wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass er blind war. Er wirkte absolut normal und seine Augen waren auch nicht seltsam verdreht, lediglich ein wenig starr. Aber damit konnte sie leben. Es war kein besonders schöner Anblick, aber er hätte auch wesentlich schlimmer sein können. Allerdings war nicht die Starrheit der Grund für ihre Gänsehaut. Es war mehr die Tatsache, dass sie das Gefühl hatte, er würde sie wirklich sehen – was absolut unmöglich war –, als lägen Gefühle in seinen Blicken und unwillkürlich fragte sie sich, ob es überhaupt möglich war, dass sich die Emotionen in den Augen eines vollkommen blinden Menschen widerspiegeln konnten. Warum eigentlich nicht? Andererseits funktionierten seine Augen nicht, hatten es auch nie. Wie also sollten dort Gefühle „hineingelangen", wenn das Gehirn scheinbar die komplette Zusammenarbeit verweigerte? Vom vielen Denken über Sehen und Fühlen und Gehirne bekam sie Kopfschmerzen, weshalb sie versuchte, sich abzulenken. Sie fing an, über die Schule zu reden – nur die Sache mit dem angeblichen Date, die in der Klasse die Runde machte, nicht –, erzählte ihm Sachen, die ihm vermutlich ohnehin egal waren oder von denen er vielleicht nicht mal eine Ahnung hatte. Aber er machte nicht den Eindruck, dass es ihn störte. Irgendwann war auch dieses Thema „aufgebraucht" und beide schwiegen, lauschten Alpha, wie er tief ein- und ausatmete, er war mal wieder eingeschlafen und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Nach einer Weile räusperte sich Milan und Leyla sah ihn erwartungsvoll an.
„Mein...Also, Si...ich..."
Er atmete tief durch und startete dann einen neuen Versuch: „Mein Bruder, Simon, sieht er mir ähnlich?"
Für einen Augenblick fragte sie sich, woher sie wissen sollte, wie Simon aussah, dann fiel ihr ein, dass sie ihn kurz gesehen hatte, als sie auf Milans Zimmer zugesteuert war. Es dauerte nur eine Sekunde, bis sie sich das scharfkantige Gesicht mit den stechend blauen Augen und der aggressiven Ausstrahlung ins Gedächtnis gerufen hatte.
„Nein. Absolut nicht", antwortete sie. „Du siehst viel...freundlicher und sanfter aus. Dein Bruder macht einem eher Angst und du...keine Ahnung, du beruhigst einen und gibst einem das Gefühl, so okay zu sein, wie man ist. Simon gibt einem eher das Gefühl, dass es egal ist, was man macht, es ist sowieso falsch"
Erschrocken und beschämt riss sie die Augen auf, war fast froh, dass Milan sie so nicht sehen konnte. Eigentlich hatte sie das gar nicht laut sagen wollen, es fühlte sich an, als hätte man ihr einen riesigen Klumpen Emotionen entrissen, den sie krampfhaft versuchte hatte, zu schützen und geheim zu halten. Aber jetzt war es zu spät und sie konnte die Worte nicht mehr rückgängig machen. Milan lächelte traurig, so traurig, dass es ihr das Herz zerriss.
„Das tut er tatsächlich", murmelte er. „Also, wir sehen uns nicht ähnlich?", hakte er nach, als hätte man Leylas Aussage falsch verstehen können.
„Tut ihr nicht. Und irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass ihr euch ähnlich seid. Von der Art her, meine ich. Aber das ist gut so", erwiderte sie sanft und griff – zu ihrer eigenen Überraschung – nach seiner Hand, strich vorsichtig mit dem Daumen über seinen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er seufzte zufrieden auf. Aus irgendeinem Grund fühlte diese ganze Situation sich genauso falsch an, wie sie sich richtig anfühlte.    

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