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„Amy!", rief Leyla durchs Haus. Langsam trottete die Schäferhündin in die Küche und blickte sie geduldig aus ihren bernsteinfarbenen Augen an. „Na, hast du Hunger?", lächelte Leyla und fuhr der Hündin über den Kopf, ehe sie mit dem Napf in der Hand die Küche verließ und ihn an Amys Futterplatz stellte. Schwanzwedelnd wurde sie verfolgt. „Genieß es, bald wird's echt anstrengend für dich", meinte sie und ließ das Tier in Ruhe.
„Und? Wie geht's ihr?" Ihre Mutter sah von ihrem Buch auf und schaute sie erwartungsvoll an. „Ganz gut. Hätte nicht gedacht, dass sie das so gut wegsteckt", erwiderte Leyla und setzte sich im Schneidersitz aufs Sofa. Nachdenklich nickte ihre Mutter, ehe sie sagte: „Ich bin jetzt schon total nervös" Kaum hatte sie das gesagt, kam Amy zu ihnen und obwohl sie keinen Ton von sich gab, wussten sowohl Leyla als auch ihre Mutter, was los war.

Leyla konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so schnell im Auto saß. „Schneller, schneller, schneller", feuerte sie ihre Mutter an. „Verdammt!", fluchte diese, warf die Hände in die Luft und starrte wütend die rote Ampel an. Nervös fing sie an, am Radio zu fummeln. Panisch sah Leyla ihr dabei zu, traute sich nicht, etwas zu sagen, ihre Mutter zu bitten, das Radio nicht anzustellen. Erleichterung machte sich in ihr breit, als das Gerät schlichtweg rauschte.

„Und?", fragte ihre Mutter aufgeregt und mit schlapper Stimme. „Alles gut verlaufen, trotz der Komplikationen durch die leicht verfrühte Geburt", informierte sie Dr. Palster, „Aber es wäre besser gewesen, wenn Sie Amy daheim gelassen hätten."
„Ich...ja, ich weiß, aber...oh Gott, es ging alles so schnell und..." Sie brach ab, kämpfte mit Stresstränen und Leyla strich ihr beruhigend über den Rücken. Der Arzt sah sie verständnisvoll an und lächelte dann. „Beim nächsten Mal. Also, falls es ein nächstes Mal geben sollte."
Leylas Mutter nickte erschöpft. Amys Schwangerschaft hatte sie mehr mitgenommen, als sie sich hatte anmerken lassen, was Leyla einen Stich ins Herz versetzte. Sie hatte – wie so oft – das Gefühl, sich zu sehr um sich selbst zu kümmern. Wieder einmal nahm sie sich vor, mehr auf ihre Mitmenschen zu achten, war sich aber tief in ihrem Inneren sicher, dass sie dabei versagen würde. Das Frustrierende für sie war die Tatsache, dass sie es nicht mit Absicht tat. Sie lebte ihr Leben, versuchte, möglichst unauffällig zu sein, sich ihre Besonderheit nicht anmerken zu lassen, war aber so damit beschäftigt, dass sie nahezu alles andere um sich herum ausblendete.
„Darf ich zu ihr?", fragte Leyla und strahlte Dr. Palster an.

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