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Angespannt lag er neben ihr. Dachte an den Streit. Simons Worte wollten sich ihm aufdrängen, doch er schob sie immer wieder weg. Wollte nicht darüber nachdenken. Konnte nicht darüber nachdenken. Aber er musste darüber nachdenken. Es ging nicht anders. Es war, als wären sämtliche Abwehrmechanismen ausgeschaltet worden. Im ersten Moment löste das eine kleine, kurze Panikwelle aus, aber dann wurde ihm bewusst, dass er das nicht brauchte. Er lag zwischen Alpha und Leyla, die ersten beiden seit langem, die ihm das Gefühl gaben, so in Ordnung zu sein wie er war. Er wurde bedingungslos akzeptiert, die beiden warfen ihm seine unverschuldete Schwäche nicht vor. Im Gegensatz zu Simon. Milan wusste nicht, wie lange er dort lag, schweigend, Leyla auf der einen Seite, Alpha auf der anderen. Schließlich durchbrach er die Stille, indem er zögernd ansetzte: „Ich...Simon...Also, mein Vater..."
Er atmete tief durch und sagte dann: „Okay, nochmal. Als ich ein Jahr alt war, hat unser Vater uns verlassen, warum, weiß ich nicht genau, aber Simon ist davon überzeugt, dass ich schuld daran bin. Weil ich blind bin, verstehst du? Er hat es jahrelang unterdrücken können, aber man hat gemerkt, wie es ihn fertiggemacht hat, seinen Vater mit 6 Jahren zu... verlieren. Ich schätze, er ist in die falschen Kreise gerutscht, hat mit 14 angefangen zu rauchen und mit 15 zu kiffen. Vielleicht hat er auch schon vorher geraucht und gekifft, aber man hat es zumindest erst dann wirklich gemerkt. Wir hatten – trotz der Vorwürfe, die er mir innerlich gemacht hat – ein gutes Verhältnis. Ich weiß nicht, ob diese Wut auf mich einfach immer größer geworden ist, je mehr Zeit vergangen ist oder ob sie sich über die Jahre angestaut hat und irgendwann aus ihm herausgeplatzt ist. Wir hatten an seinem 18. Geburtstag, also vor circa 6 Jahren, einen riesigen Streit. Er hatte was getrunken, vielleicht hatte er vorher noch was geraucht, keine Ahnung. Auf jeden Fall hat unser Vater ihm eine Karte geschickt, auf der stand, dass er ihm alles Gute zum Geburtstag wünscht. Allerdings zum 17., nicht zum 18. Da ist Simon ausgerastet, weil er der Meinung war, unser Vater wüsste ja nur noch grad so, dass er existiert und dass das alles meine Schuld sei. Dass ich ihn vertrieben hätte, weil ich – Zitat – „es nicht mal hinkriege, sehen zu können und sowieso immer nur versage" und dass unser Vater „das von Anfang an gewusst hat". Dass er sich den Frust und die Enttäuschung ersparen wollte, dabei zuzusehen, wie sein Sohn zu einem Riesenloser wird." Milan schluckte, rang nach Luft. „Und dann...tja, dann ist er gegangen, einfach so und hat jahrelang nicht mit mir geredet, ist mir komplett aus dem Weg gegangen. Bis vor kurzem. Aber schön war es trotzdem nicht."
Er fühlte sich seltsam, das alles erzählt zu haben und dann noch der Nachbarin, zu der er scheinbar eine besondere Verbindung hatte und die er doch trotz allem gar nicht so gut kannte. Aber jetzt war es zu spät, er konnte die Worte nicht mehr zurücknehmen.
„Das tut mir schrecklich leid", murmelte Leyla, sichtlich überfordert, weil sie nicht zu wissen schien, was sie sagen sollte. Etwas hilflos legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und kuschelte sich an ihn – was ihn verwirrte, aber er sagte nichts.
„Weißt du, dein Bruder ist ein Arschloch. Und du kannst gar nicht schuld daran sein, dass dein Vater gegangen ist. Es ist ja auch nicht deine Schuld, dass du blind bist. Und wahrscheinlich wäre er so oder so abgehauen. Solche Leute gibt es immer wieder, die hauen ab, weil...keine Ahnung. Midlifecrisis oder so? Was weiß denn ich. Aber es liegt definitiv nicht an dir und erst recht nicht daran, dass du blind bist. Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube, Simon hat einfach nur einen Sündenbock gesucht, weil er nicht mit dem Verlust klargekommen ist. Also, ich meine, ich kenne ihn nicht richtig und deinen Vater ja erst recht nicht, aber...das würde für mich Sinn ergeben."
Ihre Stimme war leise, beruhigend, alles an ihr strahlte Vertrauen und Ehrlichkeit aus. Es klang logisch, was sie sagte, inhaltlich. Und selbst, wenn sie totalen Blödsinn geredet hätte – Milan hätte es ihr auf der Stelle geglaubt, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand wie Leyla log, einfach, damit sich jemand besser fühlte und ihre Stimme, ihre Tonlage bestärkten das nur.
„Danke", erwiderte er flüsternd.
„Wofür?", fragte sie, verwirrt und er spürte, wie sich ihr Kopf bewegte – vermutlich sah sie ihn an.
„Für alles", antwortete er, drehte den Kopf in ihre Richtung und lächelte sie an, zumindest hoffte er, dass es so wirkte. In solchen Momenten wünschte er sich nur umso mehr, sehen zu können. Er fragte sich, wie Leyla aussah, welchen Gesichtsausdruck sie hatte, denn mit ihrer Beschreibung von vor ein paar Tagen konnte er nicht viel anfangen, zumal er sie nur noch vage im Kopf hatte. Beide schwiegen, bis sie schließlich einschliefen.

Am nächsten Morgen wurde er durch etwas Feuchtes,Warmes in seinem Gesicht wach. Überrascht schlug er die Augen auf, ohne etwassehen zu können, und lachte, als er realisierte, dass Alpha ihn weckte – undschob ihn dann weg, als er sein Maul zärtlich um seine Nase schloss. Das wardann doch zu viel des Guten.
„Alpha, nein!", mahnte er den Welpen und der Hund hörte sofort auf, was Milanüberraschte. Stattdessen legte das Tier sich neben ihn und bettete seinen Kopfauf seine Brust. Am liebsten hätte Milan weitergeschlafen, die Wärme, die Alphaausstrahlte, machte ihn ganz schläfrig. Doch er wusste, dass er aufstehenmusste. Kaum war er aus dem Bett, stieß er gegen Leyla.
„Hoppla!", rief sie lachend und begrüßte ihn dann mit einem freundlichen „GutenMorgen". Milan lächelte sie an, selten hatte ein Morgen so gut angefangen.    

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