Er genoss die Situation, fühlte sich sowohl von Alpha als auch von Leyla geliebt, obwohl er nicht mal wusste, was das zwischen ihnen war. Aber das war okay, es zählte nur die Gegenwart. Milan war sich nicht sicher, wie viel Zeit verstrich, aber als jemand an die Tür klopfte, fühlte es sich an, als wären es Stunden gewesen und gleichzeitig doch nur ein paar Sekunden. Seufzend rief er „Ja?" und Leyla hob schnell den Kopf, als sich die Tür öffnete, ließ aber seine Hand nicht los. Dadurch fühlte er sich plötzlich unfassbar stark – und diese Stärke konnte er nun gut gebrauchen, als er den Geruch, den er unwiderruflich mit Simon verband, wahrnahm.
„Simon", sagte er kalt und er spürte, wie sich Leyla dabei versteifte. Er spürte, dass die allzu bekannte Unsicherheit zurückkehrte. Er spürte, wie sie ihre Hand von seiner lösen wollte, aber das ließ er nicht zu. Er konnte es nicht zu lassen, es war, als wäre diese winzige Berührung, nur die paar Quadratzentimeter Haut, die sich berührten, sein Schutzschild, als machten sie ihn unangreifbar. Milan wusste, dass das Unsinn war, aber der Gedanke gab ihm doch eine gewisse, beruhigende Sicherheit. Er spürte, wie Simons Anwesenheit alles im Zimmer kälter werden ließ, selbst Alpha fiepte kurz unruhig. Und er spürte auch, dass Simon etwas sagen wollte, sich dann aber umentschied: „Ist die Kleine da deine Freundin?"
Diese Frage brachte ihn ins Straucheln, er wusste nicht, welche Antwort die richtige war. Glücklicherweise schritt Leyla an, etwas, was ihn vollkommen irritierte. Aber froh war er trotzdem.
„Die Kleine hat auch einen Namen", erwiderte sie und klang überraschend mutig, „und die Kleine ist seine Freundin, ja. Würdest du uns jetzt bitte alleine lassen? Ich glaube nicht, dass dein Kippengestank meinem Hund so guttut."
Ihre Hand erschlaffte in seiner ein wenig und erst jetzt bemerkte er, wie sehr sie seine Finger gequetscht hatte. Simon schwieg, als hätte er mit so einer großen Klappe nicht gerechnet. Dann meinte er gleichgültig „Okay, von mir aus", bevor er, mit einem nahezu drohenden Unterton fortfuhr „Milan, wir müssen nochmal reden." Simon lachte, es sollte freundlich klingen. Doch das Lachen unterstrich die versteckte Drohung nur noch mehr und Milan überzog eine Gänsehaut. Erst, als die Tür zugezogen wurde, hatte er das Gefühl, wieder ungehindert atmen zu können.
„Wow, das...wow", brachte er hervor.
„Was denn?", fragte Leyla und die Unsicherheit, die sie vor ein paar Sekunden noch so gut hatte beiseiteschieben können, war wieder ihr treuer Begleiter.
„Du", sagte er, „Ich hätte nicht gedacht, dass du sowas fertigbringst." Er war immer noch baff.
Das Mädchen lachte und meinte dann: „Ich auch nicht. Aber es scheint so...", ihre Stimme wurde leiser, als schämte sie sich für das, was sie jetzt sagen würde, „als würdest du das Beste aus mir herausholen."
Diese Worte gingen runter wie Öl, wärmten ihn, verdrängten die Restkälte, die Simon zurückgelassen hatte. Gerade, als er etwas sagen wollte, spürte er, wie Leyla ihn küsste. Damit war er überfordert und wusste nicht, was er tun sollte. Dafür war er zu überrascht. „Oh", sagte er, nachdem sie sich von ihm gelöst hatte.
„Ich...ach, verdammt...ich...ich glaube, ich geh mal lieber", stotterte sie, rief nach Alpha und verließ dann ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Milan blieb zurück, alleine, verwirrt. Es dauerte genau sechs Sekunden, bis ihn eine Welle der Angst ergriff. Wenn Leyla weg war, bedeutete das, das er ungeschützt seinem Bruder entgegentreten musste, der vermutlich noch immer in der Küche saß und darauf lauerte, endlich mit Milan allein zu sein.
Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hatte Milan sich gefreut, wenn er mit Simon allein war, ohne ihre Mutter, die ständig irgendwas wollte und fragte und tat. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hatte Milan sich gefreut, wenn seine Mutter sich nicht zwischen ihn und seinen Bruder zwängte, als fürchte sie, die beiden könnten sich zu gut verstehen.
Aber diese Zeit war vorbei.
Jetzt war die Zeit, in der Milan sich gefreut hätte, wenn seine Mutter, sobald Simon in seinem Zimmer war, ständig irgendwas wollte und fragte und tat. Jetzt war die Zeit, in der er sich wünschte, dass seine Mutter sich zwischen ihn und seinen Bruder zwängte, weil sie sich niemals zu gut verstehen würden, weil es wahrscheinlicher war, dass Simon seinen kleinen Bruder verbal und emotional zerfleischte.
Er hatte sich selten so allein und unverstanden gefühlt.Ungnädig verstrichen die Sekunden, Milan spürte jedenHerzschlag überdeutlich, hatte das Gefühl, es würde ihm aus der Brustherausspringen wie in einem Comic. Die Zeit zog sich hin wie Kaugummi und errechnete jeden Moment damit, dass sein Bruder ins Zimmer platzen würde. Nervösund angespannt saß er auf dem Bett, lauschte – und zuckte trotzdem zusammen,als jemand gegen seine Tür hämmerte. Ohne eine Antwort abzuwarten wurde die Türaufgerissen und sofort wurde es im Raum ein paar Grade kälter.
„Weißt du, wenn ich dich und die Kleine nicht vor ein paar Tagen zusammengesehen hätte, hätte ich gedacht, dass sie lügt."
Alles daran war verwirrend. Simon klang so...freundlich, zumindestverhältnismäßig und für einen Moment stieg in Milan die Hoffnung auf, dass esdoch wieder so werden würde wie früher. Aber wann er hatte die beiden gesehen?
„Du hast uns gesehen? Wann? Wo?", fragte Milan, wandte sein Gesicht in dieRichtung seines Bruders und fühlte sich ihm schutzlos ausgeliefert. DiesesGefühl war nichts Neues und doch machte es ihm jedes Mal aufs Neue Angst.
„Vor ein paar Tagen, hab ich doch gesagt. In diesem Park, auf den du soabfährst, warum auch immer."
Für einen Augenblick begriff Milan nicht, welchen Moment sein Bruder gemeinthatte, bis ihm klar wurde, dass er ihr zweites Aufeinandertreffen meinte. Daserste im Park, das erste ohne Alpha. Der Tag, an dem er zu ihr nach Hausegegangen war, an dem sie ihn an der Hand genommen und durch die Gegend geführthatte, ganz vorsichtig und sanft, als wäre er aus Glas.
„Ach so", erwiderte er und zuckte mit den Schultern, versuchte,Gleichgültigkeit auszustrahlen. Was unmöglich war, in Anbetracht dessen, wer davor ihm stand. Es ging nicht, egal, wie sehr er es auch versuchte. Simon tat,als wüsste er das nicht, aber er wusste es eben doch. Milan hörte, wie seinBruder einen Schritt ins Zimmer machte. Und dann noch einen. Jeder Schritt, derden Abstand zwischen ihnen verringerte, sorgte dafür, dass Milans Blickfelddunkler wurde. Er schluckte, bekam immer größere Angst. Aber das war schonokay.
„Ich hätte nie gedacht, dass jemand wie du mal 'ne Freundin abbekommt. Die mussja noch verzweifelter und kaputter sein als du."
Da war er wieder, der Hohn in Simons Stimme, der seit dem großen Streit seinständiger Begleiter war, wie ein Schatten. Dieser Spott machte Milan wütend.
„Sei still", zischte er, etwas, was er selbst von sich nicht gewohnt war.
„Warum? Weil es stimmt?"
Im ersten Moment wollte er etwas auf die höhnende Frage seines Bruderserwidern, aber dann begriff er, dass Simon genau das wollte: Streit. Als wollteer Milan immer wieder daran erinnern, das zwischen ihnen alles anders war, dassnie wieder alles gut werden würde. Und das nur, weil...er wollte nicht weiterdarüber nachdenken. „Ach, weißt du, denk doch, was du willst. Immerhin habich's nicht nötig, wesentlich jüngeren Mädchen das Hirn raus zu vögeln."
Simon lachte auf, kalt, bitter, scharf wie eine Messerklinge.
„Immerhin", sagte er, „hab ich die Möglichkeit, die Hässlich..."
Er wurde unterbrochen, als seine Mutter ins Zimmer kam und wütend rief: „Rausmit dir!" Simon widersprach und so ging es einige Augenblicke hin und her, biser schließlich aufgab und ging.
„Ich seh dich wieder!", meinte er bedrohlich beim Rausgehen und Milan wusstegenau, dass er damit gemeint war.
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Farbenblind
Teen Fiction»„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. „Weiß", erwiderte sie. „Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd. „Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass...