Warum traf ihn der Satz Er gehört ganz und gar dir so sehr? Er wollte nicht Alpha gehören. Er wollte niemandem gehören, er war ja kein Gegenstand. Er wollte lediglich zu jemandem gehören. Und in diesem Fall wollte er zwar zu Alpha gehören, aber nicht nur. Er wollte auch zu Leyla gehören.
„Können wir wieder hoch in dein Zimmer?", fragte er.
Milan wollte ungestört sein. Er war sich zwar sicher, dass Christiane die beiden in Ruhe lassen würde, aber sich in ein Zimmer zurückziehen zu können, versprach irgendwie mehr Sicherheit.
„Klar", erwiderte Leyla, auf einmal hielten sie sich an den Händen und er wusste nicht mehr, wer nach wessen Hand gegriffen hatte. Es war ihm eigentlich auch egal, es zählte nur, dass seine Hand in ihrer lag und gleichzeitig auch ihre Hand in seiner. Um ihn herum wurde wieder alles heller und leichter. Gemeinsam stiegen sie die Treppen hoch und obwohl er diesmal bereits nach der ersten Stufe keine Hilfe mehr gebraucht hätte, hielt er ihre Hand die ganze Zeit über fest. Er klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring und kam sich wieder schrecklich kindlich vor. Die Freude darüber, dass Alpha ihnen auf Schritt und Tritt folgte, verstärkte dieses Gefühl nur. Aber das war ihm egal.
„Welche Farbe ist heute dran?", fragte er, nachdem sie in Leylas Zimmer angekommen waren.
„Grün", erwiderte Leyla.
„Wann siehst du grün?", wollte er wissen, wurde ganz aufgeregt bei dem Gedanken daran, eine neue Farbe zu lernen. Wie ein kleines, wissbegieriges Kind eben.
„Geigen", meinte sie.
„Geigen?"
„Geigen."
„Ist da wieder diese Abstufung?"
„Ja"
„Je höher der Ton, desto heller die Farbe?"
„Genau"
Milan nickte. „Erzähl mir mehr. Über grün, meine ich."
Leyla schien einen Moment lang nachzudenken, ehe sie sagte: „Grün ist beruhigend. Nicht so wie blau, grün ist noch viel beruhigender. Grün ist...wie das Gras. Kennst du das Gefühl, auf einer Wiese zu laufen oder darauf zu sitzen, wenn alles warm und schön ist? Das ist grün." „Ich mag grün", erwiderte er leise. Ein Schweigen entstand, ehe er fortfuhr: „Du hast dir das einfacher vorgestellt, oder?"
„Was?"
„Mir Farben zu beschreiben. Dass du mir einfach sagst Hey, blau ist Klaviermusik. Ist doch ganz einfach und das war's"
„Ich...Ja...Ich kann auch nicht jede Farbe mit Musik beschreiben, das geht nicht. Und sowieso ist das eine blöde Idee von mir gewesen. Jeder Synästhetiker sieht jede Art von Musik in anderen Farben. Nur, weil ich Klavier blau sehe, heißt das nicht, dass das alle so sehen. Manchen sehen blau, wenn sie Metal hören. Verstehst du? Das ist nichts...einheitliches. Deswegen versuche ich, zusätzlich noch andere Sinne mit einzubeziehen. Ich hoffe, das ist okay."
Und – zack – war sie wieder da, diese leidliche Unsicherheit. Für einen Moment dachte er darüber nach, Leyla einfach zu schütteln, ihr die Unsicherheit auszutreiben. Aber das würde nichts bringen, vermutlich war sie selbst genervt davon.
„Je mehr Sinne, desto besser!", lächelte er.
„Danke", sagte sie leise.
„Soll ich...willst du noch eine Farbe kennenlernen?", fragte sie dann, doch er schüttelte den Kopf.
„Später vielleicht. Ich muss mich erst noch an den Gedanken von Grün gewöhnen."
Leyla gab einen zustimmenden Laut von sich.
„Versteh ich. Und ich will...dein Hirn ja auch nicht überanstrengen"
Irrte er sich oder hatte sie den Satz eigentlich anders beenden wollen? Redete er sich das nur ein, weil er es selbst so sehr wollte? Langsam beschlich ihn das Gefühl, dass ihre Unsicherheit ansteckend war. Am liebsten hätte er seine Hand irgendwo dagegen geschlagen, einfach aus Frust. Aber erstens war ihm die Gegend nicht vertraut genug, zweitens wollte er nicht, dass Leyla ihn so erlebte – auch, wenn solche Situationen extrem selten vorkamen – und drittens hatte er nicht so große Lust darauf, Leylas Sachen kaputt zu machen. Vorsichtig löste er seiner Hand von ihrer, ihm war erst jetzt aufgefallen, dass sie sich immer noch an der Hand hielten, und legte dann den Arm um sie. Er wusste nicht, warum, wusste nicht, was das bedeutete. Ob es überhaupt irgendwas bedeutete. Und dann passierte es, schon wieder. Sie küsste ihn. Aber diesmal blieb sie und rannte nicht weg.
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Farbenblind
Teen Fiction»„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. „Weiß", erwiderte sie. „Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd. „Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass...