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Erleichtert ließ sie sich auf die Bank fallen. Sie brauchte eine Pause, hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr so viel hätte laufen können. Ihre Knie zitterten, alles in ihr war angespannt – seit der Sekunde, in der Milans und ihre Hand sich berührt hatten und als er nach ihrer Hand gegriffen hatte, war es nur schlimmer geworden. Sie wusste nicht, was das bedeutete. Es machte ihr Angst. Sie brauchte eine Pause, am besten von allem. Aber das war nicht möglich, das war ihr bewusst, also hatte sie die Bank wie eine rettende Insel nach einer langen, anstrengenden Strecke Kraulens wahrgenommen und diese Chance ergriffen. Leyla hoffte, dass sie sich nicht allzu auffällig verhalten hatte, dass Milan nichts gemerkt hatte. Völlig erschöpft sah sie Alpha an und zwang sich zum Lächeln. Vielleicht bildete sie sich das ein, aber sie glaubte zu sehen, wie ihr der Hund zuzwinkerte, wodurch sie sich gleich viel besser fühlte. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie Milan, der – noch immer etwas überrumpelt – eine passende Sitzposition zu suchen schien, keine schien gut genug. War er nervös? Ging es ihm gut? Wie sehr belastete es ihn, dass Simon einen der Welpen hatte zu sich holen wollen? Oder hatte er das schon wieder verdrängt? So viele Fragen wirbelten ihr durch den Kopf, auf die sie keine Antwort fand, es sei denn, sie würde Milan danach fragen. Aber das wollte sie nicht. Die nach außen hin sorglos scheinende Situation sollte bestehen bleiben. Für einen Moment blieb sie so sitzen, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen, sie war noch immer angespannt, dann fing sie langsam an, sich zu entspannen. Sie spürte, wie sie nicht mehr ganz so steif auf der Bank saß, den Rücken nicht mehr so zwanghaft durchstreckte. Milan hingegen zappelte noch immer neben ihr herum und plötzlich war sie genervt. Alles hier nervte sie. Die Art, wie Milan neben ihr herumrutschte. Alpha, der zwischen ihnen lag und eigentlich gar nicht tat, was nervig sein könnte. Das Wetter. Die Tatsache, dass sie in Gedanken immer wieder zu der Situation zu Hause landete, in der Simon in ihr Wohnzimmer eingedrungen war. Simon. Simon an sich nervte sie, seine pure Existenz machte sie wütend. Aber am meisten genervt war sie davon, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie ihre Gefühle – ganz allgemein, aber besonders die gegenüber Milan – deuten sollte. Sie unterdrückte ein wütendes Schreien, so wütend und genervt war sie von sich selbst. Sie hatte keine Lust mehr, auf dieser dämlichen Bank zu sitzen, mit einem Jungen, der blind und hilflos war und einem Hund zu ihren Füßen, der eben diesen Jungen über sie gestellt hatte, seit dem ersten Aufeinandertreffen der beiden. Kaum hatte sie das gedacht, schämte sie sich auch schon wieder dafür. Es war nicht Milans Schuld, dass er blind war. Es war nicht wie bei...es war schlichtweg nicht seine Schuld. Und es war auch nicht seine Schuld, dass Alpha ihn so liebte. Das waren einfach Fügungen des Lebens, vielleicht sogar des Schicksals, auf die niemand Einfluss hatte. Die riesige Welle von Scham, die sie überrollte, niederdrückte und in einen Strudel von bitteren Gedanken spülen wollte, nahm ihr die Luft. Leyla wollte weg von hier – wie jedes Mal, sie wollte mal wieder davonrennen – und sich in ihren Erker flüchten. Sie vermisste es, in ihrem Erker zu sitzen, wie abgeschottet von der Welt, die sie nur noch aus dem Fenster heraus beobachtete, unnahbar für jedes noch so kleine Problem. Ihr Erker war ihre Schutzhöhle und die brauchte sie jetzt.
Gerade, als sie so tun wollte, als wäre ihr eingefallen, dass sie noch einen Termin hatte – die wohl schlimmste Ausrede, um unangenehmen Situationen zu entgehen –, sagte Milan leise „Können wir Silvester vielleicht zusammen verbringen? Ich würde dieses Jahr gerne mit dem Besten, was mir passiert ist, beenden" und goldschimmernden Seifenblasen tauchten auf, so strahlend wie sein Lächeln. Und da war alles wie ausgelöscht. Die Genervtheit, die Scham, der Wunsch, abzuhauen. Alles, was Leyla noch empfand waren Freude, vor allem über das Kompliment, und die ihr allzu bekannte Unsicherheit. Was, wenn er zu viel von ihr erwartete, Dinge in ihr sah, die gar nicht existierten, die nur er sah, weil er es sich wünschte? Wenn er sie nicht mochte, sondern lediglich das, was er sich – zusätzlich – vorstellte, davon, wie sie war? Verzweifelt versuchte sie, diese Gedanken beiseite zu schieben, denn darum ging es jetzt nicht.
„Natürlich können wir das", beantwortete sie seine Frage und hoffte, dass er das kleine Lächeln heraushörte.    

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