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Milan fühlte sich seltsam wohl und geborgen, in diesem fremden Haus, in diesem fremden Wohnzimmer, auf diesem fremden Sofa. Neben ihm sank das Sitzpolster ein wenig, als Leyla sich wieder neben ihn setzte. Er fühlte sich wie berauscht und wusste nicht genau, woran es lag. An der Musik? An Leyla? An der Situation allgemein? Selig lächelte er vor sich und zuckte zusammen, als Alpha wieder auf seinen Schoß hüpfte, ganz aufgeregt.
„Süß, er guckt, ob alles in Ordnung ist."
Milan entging der Ton ihrer Stimme nicht, der sagte Sie lächelt gerade unfassbar glücklich vor sich hin. Mit der Zeit hatte er das Emotionen lesen aus Stimmlagen perfektioniert. Bei Leyla schien das bisher sowieso nicht besonders schwer zu sein, es war, als gäbe es nur zwei Tonlagen, die immer im Vordergrund standen: Unsicher und glücklich. Er versuchte, sich vorzustellen, wie wohl ihre Stimme klang, wenn sie traurig war, so traurig, dass man hören konnte, wie ihr Herz zerbrach. Aber er schaffte es nicht. Es drängte sich ihm die Frage auf, ob Leyla überhaupt so richtig traurig sein konnte. Entweder war sie es nie gewesen oder eine Zeit lang so sehr, dass ihr „Traurigkeitsspeicher" aufgebraucht war.
Milan war fest davon überzeugt, dass jeder Mensch nur einen bestimmten Speicherplatz pro Emotion hatte – und diese je nach Person ganz verschieden waren. Und wenn dieser Speicher aufgebraucht war, blieb der Person nichts anderes übrig, als auf die anderen Speicher zurückzugreifen. So war er sich sicher, dass Simons Frustspeicher inzwischen leer war und er nun nur noch wütend sein konnte – falls überhaupt. Er hatte schon so lange nicht mehr mit seinem Bruder gesprochen, dass es weh tat. Aber darüber wollte er sich keine Gedanken machen.
„Alpha ist ein guter Hund, so voller Liebe", meinte Milan nachdenklich und fügte dann hinzu: „Also, die anderen bestimmt auch. Aber...ich glaube, er hat eine besondere Art von Liebe." „Ja, das stimmt wohl.", erwiderte Leyla und schon wieder konnte er sie lächeln hören. Ihr Lächeln war ansteckend.
„Die Musik ist schön. Was ist das?", fragte er schließlich.
„Der Nussknacker", antwortete sie und er konnte nicht anders, als zu fragen: „War das letztens auch eine CD oder warst das du, die Klavier gespielt hat?"
Für einen Moment schien Leyla nicht zu wissen, was er meinte, dann sagte sie: „Ach so, nein. Das war keine CD. Meine Mutter hat gespielt."
Milan brummte zustimmend.
„Es war schön. Hat mir gefallen."
„Mir auch, es ist das Lieblingsstück meiner Mutter. Und es war auch der Grund, warum angefangen habe, zu tanzen."
„Ballett, nehme ich an? Wie lange tanzt du schon?", fragte er, froh darüber, ein Gesprächsthema gefunden zu haben, Stille und Schweigen machten ihn nervös, gaben ihm das Gefühl, total hilflos und verletzlich zu sein.
„Ja. Ich habe 8 Jahre getanzt. Jetzt nicht mehr."
Irrte er sich oder vernahm er tatsächlich einen Hauch von Angst in ihrer Stimme. Aber wovor sollte sie Angst haben?
„Warum?"
Kaum hatte er es ausgesprochen, begriff er, dass genau das war, wovor Leyla Angst gehabt hatte: Vor der Frage nach dem Warum. Aber jetzt konnte er es nicht mehr zurücknehmen, die Frage schwebte in der Luft und wartete darauf, beantwortet zu werden.
„Ich...ähm...", setzte Leyla an, wurde jedoch unterbrochen, als die Tür plötzlich laut zufiel und eine Frau fröhlich „Hallo Ley, ich bin wieder da!" durchs Haus rief.
„Hey, Ma, ich, äh, hab Besuch", antwortete Leyla. Ihre Mutter musste wohl jetzt mitten im Zimmer stehen, die Stimme war nun näher, als sie überrascht sagte: „Oh, hallo, ich bin Christiane"
Milan lächelte in ihre Richtung, ihre Stimme war warm, freundlich – das musste Leyla wohl von ihr haben – und selbstbewusst, den Teil hatte sie ihrer Tochter wohl nicht vermitteln können.
„Milan", erwiderte er ebenso freundlich und fügte dann, einem unbestimmten Gefühl folgend, hinzu: „Ich würde Ihnen ja die Hand geben, aber...ich bin blind. Verzeihung."
„Oh, ach so. Na, das macht nichts. Kein Grund, sich zu entschuldigen, dafür kannst du ja nichts. Fühl dich wie zu Hause. Hast du schon unsere...oh, ich seh schon, Alpha hast du schon kennengelernt"
Milan hatte Mühe, dem Redeschwall der Frau zu folgen. Er war überrascht, wie sehr sie sich in dieser Hinsicht von ihrer Tochter unterschied, abgesehen von der Beinahe-Selbstverständlichkeit, die beide an den Tag gelegt hatten, nachdem sie von seinem Handicap erfahren hatten. Es war ungewohnt, aber angenehm. Er wünschte sich, seine Familie würde so gut damit klarkommen. Sehnsüchtig dachte er wieder an Simon, an damals, als sie sich noch so gut verstanden hatten. Energisch schüttelte er den Kopf. Es brachte nichts, an seinen Bruder, die Vergangenheit zu denken. Dadurch würde sich nichts ändern, es würde Milan höchstens noch mehr frustrieren.
„Na, ich will doch nicht weiter stören, Ley, ich geh mit den Hunden raus in den Garten, soll ich Alpha mitnehmen oder bleibt der lieber bei Milo?"
„Milan", korrigierte Leyla sie, „Lass ihn ruhig hier, wenn er hierbleiben will, er wird schon nachkommen, wenn er Lust hat"
„Oh, ja, Milan, entschuldige."
Dann herrschte Ruhe und Milan hatte das Gefühl, dass Leylas Mutter den Raum verlassen hatte. Die Musik war weitergelaufen, die ganze Zeit über, hatte sich nicht stören lassen – was wiederum Milan störte. Er hasste es, einem Teil von einem Lied nicht seine ganze Aufmerksamkeit schenken zu können – vorausgesetzt er wollte es –, egal, wie oft er schon gehört hatte oder wie oft er es noch hören konnte. Und wenn er nicht wusste, ob es das erste und auch letzte Mal war, dass er dieses Lied hörte, hasste er es noch mehr. Und dieses Musikstück wollte er mit jeder Intensität hören, die er aufbringen konnte, wollte es aufsaugen, weil das wohl das Einzige war, das ihn an diesen Moment erinnern würde. Zumindest das Einzige, zu dem er, rein theoretisch, jederzeit Zugriff haben würde. Aber er traute sich nicht, sie zu bitten, zurück zu spulen, das erschien ihm dreist. Für einen Moment dachte er darüber, an das Gespräch zuvor anzuknüpfen, aber ihm war die Erleichterung nicht entgegen, die in Leylas Stimme mitgeschwungen hatte, als sie unterbrochen wurde. Milan wollte sie nur ungern in irgendeine unangenehme Situation bringen. Also schwieg er und streichelte Alpha, der sich demonstrativ auf seinen Schoß gelegt hatte. 

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