60

92 9 0
                                    

„Noch zehn Minuten!", verkündete Leylas Mutter. Kam es ihm nur so vor oder wurden alle unruhiger?
„Leyla? Können wir kurz reden?", wandte er sich an seine Freundin, sein Herz raste.
„Klar", erwiderte sie etwas erstaunt, klang aber dennoch erfreut.
„Ich...ähm...allein", stammelte er verlegen.
Ihr warmes Lachen drang an sein Ohr und sie zog ihn sanft mit sich. Wieder einmal hatte er keine Ahnung, wohin sie ihn brachte, aber es war ihm egal. Er wäre überall mit ihr hingegangen, solange sie dabei seine Hand hielt.
„Also? Was ist los?", fragte sie. Erst jetzt merkte er, dass sie stehengeblieben waren. Es roch nach Essen, weshalb Milan davon ausging, dass sie sich in der Küche befanden.
„Ich...also...ich...äh...", setzte er an, die Worte stolperten aus seinem Mund, völlig zusammenhangslos. Von sich selbst angenervt atmete er tief durch und versuchte es erneut: „Das ist jetzt ein bisschen peinlich, aber...ich hatte noch nie einen Neujahrskuss und ich...ich wollte fragen, ob du...mein erster sein willst"
Die letzten Worte nuschelte er, sprach schnell, so sehr schämte er sich dafür. Für eine Sekunde war es still und Milan befürchtete, dass sein Herz, das vor Nervosität Purzelbäume zu schlagen schien, draußen im Esszimmer deutlich zu hören war.
„Oh, Milan, das ist echt total süß von dir! Und klar, es wäre mir eine Ehre", rief Leyla aus und das deutlich heraushörbare Strahlen steckte Milan an. Für einen Moment war sein Herz kurz stehen geblieben, jetzt pumpte es wieder in einem normalen Tempo Blut durch seine Adern und in ihm machte sich Erleichterung breit.

„3...2...1...Frohes Neues!", riefen ihre Mütter, aber Milan nahm es gar nicht richtig wahr. Alles, was für ihn zählte, was von Bedeutung war, war das: Leylas Hände an seinen Wangen, ihre Lippen auf seinen, ihr Duft in seiner Nase. Tausend Gedanken rasten ihm durch den Kopf, er fragte sich, ob ihre Hände schon immer so klein und ihre Lippen die letzten Male auch so weich gewesen waren, ob ihr Duft schon immer so dermaßen intensiv und beruhigend gewesen war und überhaupt, war es nicht sonst ein anderer? Er wünschte sich, dass dieser Moment nie mehr endete. Das musste die Definition von purem Glück sein – und er hielt es in den Händen, ganz vorsichtig.
Der Kuss hatte nicht lange gedauert, nur ein paar Sekunden und doch war es ihm wie Jahre vorgekommen. Als sie sich von ihm löste, dachte er nur noch eines: Fuck!

Ungefähr zwei Stunden später lag er im Bett und dachte nach. Er bekam Leyla nicht mehr aus dem Kopf, was ihm irgendwie Sorgen bereitete. Er wusste, was das bedeutete, wollte es sich aber nicht eingestehen. Und sowieso, warum sollte Leyla genauso empfinden? Nur, weil sie ihn geküsst hatte? Auch vor dem Neujahrskuss? Nur, weil sie ihn so rücksichtsvoll behandelte? Nur, weil sie so viel Zeit mit ihm verbrachte? Nur, weil sie Simon gegenüber so getan hatte, als wären sie zusammen? Das bewies gar nichts. Und doch...Die Art, wie sie ihn geküsst hatte. Wie eine flüsternde Brise im Sommer, warm, angenehm, wie ein kleines Geschenk.
Er konnte nicht aufhören, über ihre weichen Lippen nachzudenken, ihre Hände, die sein Gesicht eingerahmt hatten, ihre Hüften, die so perfekt in seine Hände gepasst hatten, ihr Duft, der ihn daran erinnert hatte, dass das wirklich geschehen, dass er lebendig war. Es waren eigentlich nur Kleinigkeiten gewesen, unbedeutsame Details – aber in diesem Moment hatte Milan das Gefühl, dass es nichts im Leben gab, das größer und wichtiger war.
„Ach, Alpha", seufzte er in die Dunkelheit hinein. „Was mach ich denn jetzt?"
Alpha, der seinen Kopf auf Milans Bauch abgelegt hatte, drehte sich ein wenig und obwohl der Junge es nicht mit Sicherheit sagen konnte, hatte er doch das Gefühl, dass der Hund ihn anblickte.

Am nächsten Morgen – oder war es bereits Mittag? – wurde er von seiner Mutter mit einem vergnügten „Guten Morgen, mein Schatz. Gut geschlafen?" begrüßt und Milan hatte das Gefühl, dass sie noch etwas anderes sagen wollte, sich aber zusammenriss. Und da war noch etwas. Es roch nach...
„Hast du Kaffee gekocht?", fragte er erstaunt und überging die Floskel seiner Mutter.
„Ja", erwiderte sie fröhlich.
Das verwirrte ihn. Sie hatte schon eine ganze Weile keinen Kaffee mehr gekocht und es war noch länger her, dass sie so dermaßen ausgelassen war.
„Alles okay?" Skeptisch folgte er in Gedanken den Schritten seiner Mutter, die durch die Küche zu wirbeln schien.
„Natürlich! Wir haben ein ganzes, neues Jahr vor uns! Ein Jahr voller Freude und Sonne und Liebe!"
Bei dem Wort „Liebe" veränderte sich ihre Stimme irgendwie.
„Ah", machte Milan argwöhnisch. Erst wollte er weiterfragen, entschied sich dann aber dagegen. Vermutlich wollte er gar keine weiteren Details darüber, warum sie eine so überraschend gute Laune hatte. Allerdings verriet sich den Grund von sich aus.
„Also, jetzt sag schon. Bist du endlich mit Leyla zusammen?", platzte sie aufgeregt heraus.
„Ich...Wie kommst du auf sowas?"
„Ich hab gesehen, wie ihr euch geküsst habt. Und ich merk doch, wie anders du in ihrer Gegenwart bist. Irgendwie...glücklicher. Und seit dem Neujahrskuss wirkst du wie betrunken. Das ist schön! Oh, ich freu mich ja so für dich!"
„Wir sind nicht zusammen", stoppte er ihre Euphorie.
„Oh...aber der Kuss..."
Die plötzliche Enttäuschung in ihrer Stimme wirkte ansteckend.
„Egal. Ich will nicht darüber reden", erwiderte Milan und versuchte, gleichgültig zu klingen.

„Milan! Hey!", rief jemand hinter ihm.
Die Leine schlug leicht auf dem Boden auf, als Alpha sofort stehen blieb, Milan jedoch noch zwei Schritte weiterlief. Er drehte sich um.
„Hey, ich bin's..."
Die Stimme kam näher.
„Leyla!", erwiderte er erfreut, ihm wurde warm und er fühlte sich zehn Kilo leichter.
„Ich wollte mich nur für gestern bedanken. So allgemein. War echt schön. Besonders..."
Sie brach ab und er lächelte, wusste, worauf sie hinauswollte.
„Fand ich auch", entgegnete er lächelnd.
„Ich fänd's schön, wenn wir das öfter machen würden"
„Was? Uns küssen?"
Milan grinste.
„Nein!", rief Leyla aus, so schnell, dass Milan für einen Augenblick lang ein ungutes Gefühl beschlich. Aber es war genauso schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war.
„Ich meine, so zu viert den Abend verbringen. Zu Abendessen und so", fuhr sie fort.
„Klingt gut. Meine Mutter freut sich bestimmt"

„Bin wieder da! Und ich hab Leyla mitgebracht!", rief er in den Hausflur. Es roch noch immer nach Zigaretten, aber es war schon besser. Seine Mutter lüftete, so oft es ging, ohne dabei das Haus auszukühlen, wofür er sehr dankbar war.
„Ach, das ist aber schön! Hallo, Leyla!"
Seine Mutter musste vor ihnen stehen und klang so überschwänglich, dass Milan sich fast schon fremdschämte. Am liebsten wäre er wieder gegangen.
„Hallo, Frau Ra..."
In Leylas Stimme schwang etwas Irritation mit.
„Nenn mich ruhig Sabine", unterbrach Milans Mutter sie.
Das überraschte Milan. Normalerweise dauerte es eine ganze Weile, bis sie anderen das Du anbot. Bei Simons Freunden hatte die kürzeste Zeitspanne ein Jahr betragen. Andererseits – das waren Simons Freunde gewesen, die sie nur akzeptiert hatte, weil sie froh war, dass sich sein Bruder nicht abgeschottet hatte und Milan wusste, dass sie sich besseren Umgang für ihren Älteren gewünscht hatte.
„Ich...oh, okay", erwiderte Leyla und schien immer verwirrter, zwang sich aber dennoch dazu, zu lachen.
„Na ja, ich lass euch dann mal alleine. Alpha, bleibst du bei den beiden?", wandte Sabine sich an den Hund.

„Das war seltsam", meinte Leyla und dem leisen Klickennach zufolge, hatte sie die Tür hinter sich geschlossen.
„Allerdings", seufzte Milan.
„Und sie hat die ganze Zeit so seltsam geguckt. Als ob sie irgendein Geheimniskennen würde"
„Oh", machte er, „Ich glaube, ich weiß, was ihr wieder durch den Kopf geht."
„Was denn?"
Sie klang neugierig, was ihn irgendwie verwirrte, es erschien ihm sooffensichtlich, was seine Mutter dachte.    

FarbenblindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt