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Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Alles, was ihr einfiel, klang hohl und dumpf, leere Phrasen, die keine Bedeutung mehr zu haben schienen.
„Warum ist Simon nur so ein dämlicher Wichser?", rutschte es ihr heraus und sie schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.
„Ich...oh Gott, tut mir leid, ich wollte...", stammelte sie beschämt.
Milan lachte nur und winkte mit einem „Schon okay" ab.
Besser fühlte sie sich trotzdem nicht.
„Aber", sagte Milan dann und klang dabei überraschend ruhig, „ich glaube nicht, dass er, wie du so schön gesagt hast, ein „dämlicher Wichser" ist. Er ist einfach nur wütend. Vielleicht fühlt er sich auch verraten, keine Ahnung. Und er war nicht immer so, das kam so mit der Zeit. Manchmal staut sich sowas eben an."
Er zuckte mit den Schultern, so, als wäre es ihm vollkommen egal, aber Leylas Gefühl sagte ihr, dass es ihm alles andere als egal war. Sie überlegte, was sie tun konnte, um ihn abzulenken. Nachdenklich beobachtete sie die Hunde, die miteinander kuschelten – oder es zumindest versuchten, denn immer wieder suchte einer von ihnen eine bequemere Position, sodass ab und zu ein kleines Gewusel entstand.
„Ich will nicht nach Hause", durchbrach Milan mit leiser Stimme die Stille und klang dabei wie ein kleines Kind. Es brach Leyla das Herz.
„Ich...ähm...also...Denkst du...", stammelte er und atmete tief durch und setzte erneut an: „Wäre es okay, wenn ich heute Nacht hier bei dir bleibe?"
Die Frage löste verschiedene Gefühle in ihr aus. Einerseits freute sie sich und ein warmes Gefühl erfüllte sie bei dem Gedanken daran, dass sie die Nacht neben Milan liegen würde. Gleichzeitig ergriff sie aber auch irgendwie Panik, irgendetwas in ihr wehrte sich – und sie wusste nicht, gegen was überhaupt.
„Klar. Ich glaub nicht, dass meine Mutter was dagegen hat.", erwiderte sie und schob dieses unbestimmbare ungute Gefühl beiseite. Milan lächelte. Sein Lächeln war so warm und dankbar, dass er Leyla damit ansteckte. In diesem Moment erschien es ihr so sinnlos, dass sie vor ein paar Minuten noch Bedenken hatte. Milan war so ein herzensguter Mensch, ganz anders als sein Bruder.
„Ich geb nur noch schnell meiner Mutter Bescheid, okay?", sagte sie.
Er gab ein bestätigendes Geräusch von sich.

Ihre Mutter war einverstanden – wie sollte es auch anders sein? Sie liebte Milan, wofür ihr Leyla sehr dankbar war.
Das Essen zog sich dahin, Milan aß langsam und anfangs etwas unsicher, aber es störte niemanden. Leyla konnte nicht anders, als ihm fasziniert dabei zuzusehen, wie er aß. Er wirkte dabei so glücklich und irgendwann auch selbstsicherer, dass sie für einen Moment vergaß, dass er blind war. Im Hintergrund dudelte das Radio, irgendein deutscher Popsong. Vor ihrem inneren Auge tanzten gelbe x-förmige Kreuze und zum ersten Mal seit langem machte sie das wütend. Zum ersten Mal, seit sie Milan kannte. Sie wünschte sich, mit ihm tauschen zu können, nur für ein paar Stunden. Plötzlich erschien es ihr beinahe wie ein Geschenk, blind zu sein und sie fühlte sich undankbar. Milan hätte vermutlich alles dafür getan, sehen zu können und sie hasste ihre Sehkraft – beziehungsweise den Teil, den sie „extra" bekommen hatte, der dafür sorgte, dass sie so anders war. Sie atmete tief durch, versuche jedoch, dabei nicht allzu laut zu atmen, um kein Aufsehen zu erregen, und schloss dabei die Augen, was die Farben jedoch nur noch verstärken zu schien. Eine Welle des Selbsthasses ergriff sie und sie kämpfte für einen Moment mit den Tränen. Auf einmal spürte sie etwas Warmes auf ihrem Oberschenkel. Irritiert öffnete sie ihre Augen wieder und sah, wie Amy ihren Kopf auf Leylas Bein gelegt hatte und zu ihr hochblickte, als wollte sie sagen: Es ist alles okay! Traurig lächelte Leyla der Hündin zu. Sie wusste, dass sie sie nur trösten wollte, aber in diesem Moment war es ziemlich unpassend. Dennoch dankbar strich sie Amy über den Kopf und formte lautlos Alles gut mit den Lippen. Für eine Sekunde sah die Schäferhündin sie an, um sicherzugehen, dass wirklich alles in Ordnung war, dann schnaubte sie und trottete wieder davon.

„Du bist viel größer als Alpha. Total ungewohnt", meinte Milan ins Zimmer hinein, als sie nebeneinander in Leylas Bett lagen. Leyla lachte.
„Was willst du mir damit jetzt sagen?", fragte sie gespielt beleidigt. „Sag bloß, du findest mich fett"
„Ich hab zwar noch nie deine Figur gesehen, aber fett bist du nicht, das kann ich mir nicht vorstellen."
Milan lächelte traurig und sie bekam Gewissensbisse.
„Egal", sagte Milan schnell und machte deutlich, dass er nicht darüber reden wollte. Stattdessen machte sich Schweigen breit und Leyla fiel auf, dass das recht häufig der Fall war, was sie jedoch nicht störte. Eine halbe Ewigkeit verging – oder vielleicht waren es auch nur zwei Minuten –, bis Milan schließlich leise sagte: „Was ich vorhin eigentlich sagen wollte, ist, dass es zwar ungewohnt ist, neben dir zu liegen, weil du größer bist als Alpha, aber...es ist schön. Das ist ein guter Start ins Ende vom Jahr."
Ein schüchternes Lächeln umspielte seine Lippen und Leyla hatte das Gefühl, dahin zu schmelzen.
„Oh", murmelte sie, „das...das war süß"
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Milan den Kopf drehte, sein Gesicht zu ihr wandte und das Kissen raschelte, es klang total laut, obwohl man es ein paar Meter entfernt wahrscheinlich gar nicht hörte. Auch sie drehte ihren Kopf zu ihm, sodass sich ihre Nasen fast berührten. Ihr Blick wanderte wieder und wieder über sein Gesicht, jedes Mal blieb er für einen Moment an dem Muttermal, das unter seiner linken Augenbraue hervorlugte, hängen. Aus irgendeinem Grund faszinierte es sie. Milan schob seine Hand langsam zwischen ihre Gesichter und für einen Augenblick starrte Leyla sie an, bis sie begriff. Behutsam legte sie ihre Hand auf seine, schob ihre Finger zwischen seine, sodass sich ihre Hände miteinander verschränkten. Der Junge lächelte und Leyla meinte, aus dem Augenwinkel zu sehen, wie er die Augen niederschlug, aber sicher war sie sich nicht. Sie schaffte es immer noch nicht, ihm so richtig in die Augen zu sehen.

Am nächsten Morgen wachte sie auf, Milans Arm lag über ihr – aber sie hielten sich noch immer an den Händen. Erschrocken löste Leyla ihren Griff und rutschte ein Stück von ihm weg. Ein seltsames, mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit, diese körperliche Nähe hatte sich irgendwie nicht richtig angefühlt und doch gab es da einen kleinen Teil in ihr, der gehässig Du hast es trotzdem genossen flüsterte. Durch die geschlossene Zimmertür drang das leise Klavierspiel ihrer Mutter – sie spielte mal wieder ihr Lieblingsstück. Die leicht schimmernden blauen Kreise machten Leyla wahnsinnig. Sie musste hier weg. Eilig schlüpfte sie aus dem Bett und achtete dabei darauf, dass sie Milan nicht aufweckte. Leise zog sie sich an, um mit den Hunden rauszugehen. Sie brauchte Bewegung, musste aufhören, zu denken. Als sie aus dem Zimmer trat, hörte ihre Mutter auf, zu spielen. Ein kleines Stück der Erleichterung machte sich in ihr breit – aber nicht genug, um sie wieder vollkommen herunterzubringen, um ihren Bewegungsdrang zu stoppen.
Unten rief sie die Hunde zu sich und suchte nach ihrer Mutter, um ihr Bescheid zu geben, fand sie allerdings nicht. Leyla zuckte mit den Schultern, Christiane würde sich schon denken können, dass sie mit den Hunden rausgegangen war.

Sie rannte, alles was sie hörte, war der Kies unter ihren Schuhen und das Klirren der Leinen, wenn sie aneinanderschlugen. Selbst Amy war angeleint, dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Leyla war es egal. Sie rannte immer weiter, ihre Beine brannten und ihre Lungen schrien, aber es war ihr egal. Es war ihr egal, es war ihr egal, es war ihr egal. Erst, wenn sie nicht mehr nachdenken würde, wäre alles gut. Plötzlich winselte Amy und verwirrt verlangsamte Leyla ihr Tempo. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie den gar keine Möglichkeit gegeben hatte, ihre Geschäfte zu erledigen. Also blieb sie stehen, keuchend, ihr ganzer Körper schmerzte und ihr wurde bewusst, wie egoistisch sie sich verhalten hatte. Bei dem Gedanken an ihren Egoismus fiel ihr noch etwas ein, etwas, das viel schlimmer war – Milan. Sie hatte einen Blinden allein gelassen, in einem fremden Zimmer, in einem Haus, dass er kaum kannte.
„Scheiße", stieß sie hervor und drängte ihre Hunde dazu, sich zu beeilen.
Auf dem Rückweg rannte sie noch schneller, angetrieben von ihrem schlechten Gewissen.

Sie stürmte in die Küche und fragte ihre Mutter, dieam Frühstückstisch saß und gerade an einem Toast mit Honig knabberte, beinahepanisch: „Ist Milan schon wach?"
Ihre Mutter schüttelte etwas irritiert den Kopf und Leyla stieß erleichtertLuft aus. Ohne weitere Erklärungen drehte sie sich um und ging in ihr Zimmer.Milan lag noch immer im Bett und schlief friedlich. Er wirkte so im Reinen mitsich und der Welt, dass sie unwillkürlich lächeln musste.    

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