45

115 9 0
                                    

Es war Weihnachten. Heute Abend würde Milan vorbeikommen, zusammen mit seiner Mutter. Allein der Gedanke daran, dass Milan den ganzen Abend bei ihr verbringen und sich – davon ging sie zumindest aus – über ihr Geschenk freuen würde, versetzte sie in so gute Laune wie schon lange nicht mehr. Fröhlich lief sie die Treppe hinunter, begrüßte ihre Mutter sowie die vier Hunde ausgiebig und sagte dann anschließend: „Mama, heute ist ein guter Tag. Das Haus könnte zusammenklappen und es wäre trotzdem ein guter Tag!"
Ihre Mutter lachte.
„Schön, dass du so optimistisch bist, Ley"

Es klingelte. Wie ein kleines Kind stürmte sie zur Tür und riss sie auf.
„Hallo!", rief sie aufgedreht, griff ungefragt nach Milans Hand und zog ihn in den Flur, während sie seine Mutter hereinwinkte. Alpha kam angerannt, dicht gefolgt von Abby und Amor, etwas weiter dahinter trottete Amy ganz gelassen heran. Alpha drückte sich an Milan wie eine Katze und Milan lachte.
„Hallo, Alpha", grinste er und der Junghund bellte zur Begrüßung.
Eine halbe Stunde später saßen sie am Esstisch, Leylas Mutter unterhielt sich angeregt mit Milans, aber das Gespräch interessierte Leyla nicht, sie konzentrierte sich voll und ganz auf Milan, versuchte, sich vorzustellen, wie er wohl aussehen würde, wenn er erfuhr, dass Alpha sein Weihnachtsgeschenk werden würde. Milan hatte anfangs Probleme, das richtige Besteck zu finden, aber nachdem seine Mutter es so angeordnet hatte, wie er es von zu Hause gewohnt war, verlief alles reibungslos. Das Prozedere des Besteckanordnens hatte Leyla einen Stich versetzt und für einen Moment hatte sie gegen aufkommende, schmerzende, bittere, kalte Erinnerungen ankämpfen müssen. Aber nach einem tiefen Durchatmen hatte sie sich wieder unter Kontrolle, hatte sich selbst von der Vergangenheit zurück in die Gegenwart katapultiert. Abgesehen davon verlief das Essen ohne weitere, nervenaufreibende Vorkommnisse, zumindest für Leyla.

Nach dem Essen folgte die Bescherung und Leyla wusste nicht, wann sie das letzte Mal so dermaßen aufgeregt war, wenn es um die Geschenke ging. Gerade, als sie anfangen wollte, klingelte es an der Tür.
„Oh, kommt noch jemand?", fragte Frau Rattner neugierig.
„Nein, eigentlich nicht", erwiderte Leyla verwundert und lief zur Tür, um sie zu öffnen.
„Hi", sagte Rebecca, die draußen stand, schüchtern.
„Rebecca?", fragte Leyla etwas irritiert, „Was machst du denn hier?"
„Ich..ähm...oh Mann, das ist echt unangenehm...Also, ich...scheiße, ich weiß nicht...", stammelte das Mädchen und Leyla sah es einfach nur an.
Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihre Freundin – falls sie diese Bezeichnung überhaupt verdient hatte – wollte.
„Charlotte hat mir erzählt was passiert ist. Das mit Simon und...wie heißt er? Mark? Dein Freund, mein ich. Egal. Sie hat mir gesagt, was passiert ist. Und ich...keine Ahnung, ich fand das echt daneben und...tut mir leid, das alles, auch, dass wir einfach so...du weißt schon", sprudelte es schließlich aus ihr heraus.
„Lass gut sein. Ich weiß ja, wie Charlotte ist. Ich meine, es war echt nicht cool, dass ihr hier aufgetaucht sein und einfach so über Leute geredet habt, die ihr nicht mal ansatzweise kennt, aber...na ja, so ist sie eben. Und...ich sag es echt ungern, aber du bist leicht zu beeinflussen, behaupte ich mal und...ja. Keine Ahnung. Egal. Vergiss es einfach, ja? Ach so und er heißt Milan."
Ohne eine Antwort abzuwarten schlug sie die Tür wieder zu. Sie wusste es zu schätzen, dass Rebecca aufgetaucht war und sich entschuldigt hatte, aber sie hatte nicht vor, sich dadurch Weihnachten vermiesen zu lassen, indem sie ausführlich darüber mit ihr redete, einfach so, zwischen Tür und Angel.

„Ich möchte, dass Milan sein Geschenk als erstes bekommt!", rief sie energiegeladen, als sie zurück ins Wohnzimmer kam und dabei tat, als wäre nichts geschehen und jeder akzeptierte das stillschweigend.
„Na, dann leg mal los", ihre Mutter.
Leyla griff nach dem Umschlag, den sie – wie es sich gehörte – unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte, lief damit zu Milan und sagte: „Streck die Hände aus"
Dann legte sie den Umschlag in seine Hände und setzte sich neben ihn, so nah, dass sich ihre Knie berührten, aber nicht zu nah, sie wollte sein Lächeln sehen, wenn er erfuhr, was er da in den Händen hielt.
„Machst du es bitte für mich auf?", bat er sie und sie tat ihm den Gefallen.
Nachdem er das Papier betastet hatte, fragte er etwas irritiert: „Was ist das?"
Leyla strahlte, während sie antwortete.
„Das, mein Lieber, ist die ärztliche Bescheinigung für einen Blindenhund"
Milan starrte sie an. Das hieß, sein Gesicht war in ihre Richtung gewandt, obwohl er sie nicht sah. Er blinzelte, wieder und wieder, er öffnete den Mund, versuchte, Worte zu finden, erfolgslos.
Er streckte die Arme aus und krächzte schließlich: „Du musst mich jetzt umarmen, sonst glaub ich dir das nicht"
Leyla lachte, sie war zufrieden mit sich der Welt, wusste, dass nichts und niemand ihre Welt und Laune mehr erschüttern konnte. Sie umarmte ihn und kämpfte mit Freudentränen, als er ihr immer wieder ins Ohr flüsterte: „Danke. Danke, danke, danke. Das ist das beste Geschenk überhaupt."
Sie umarmten sich immer noch, als Leyla hervorpresste: „Es kommt noch besser. Alpha darf dein Blindenhund werden."
„Nein!", hauchte er und drückte sie noch fester an sich, vergrub seine Nase in ihrem Haar und sie hatte das Gefühl, dass sein Körper vor Glück und Freude regelrecht vibrierte.
„Leyla, du bist einfach unglaublich"
Milan brachte die Worte gerade so heraus, Leyla hörte sie kaum.
„Ich weiß", lachte sie leise.
Für einen Moment harrten sie so aus, hielten einander fest.
Dann löste er sich von ihr und sagte: „Jetzt kriegst du dein Geschenk"
Leyla war überrascht.
„Ich hab doch gesagt, du brauchst mir nichts schenken", meinte sie gespielt vorwurfsvoll, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken.
„Mama, kannst du...", wandte sich der Junge an seine Mutter und nachdem sie „Natürlich" gesagt hatte, drückte sie Leyla ein kleines Päckchen in die Hand. Neugierig öffnete sie es. Sie entdeckte ein rundes Kästchen, verziert mit mitternachtsblauen filzenen Ornamenten. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, als sie das kleine Metallstäbchen entdeckte, das aus der Seite herausragte. Trotzdem öffnete sie das Kästchen. Eine kleine Ballerina-Figur erhob sich, drehte sich und eine Melodie wurde gespielt. Das war zu viel für sie.
„Ich...Danke, Milan...Ich...äh...Tut mir leid, ich bin gleich wieder da", stammelte sie, legte ihr Geschenk zur Seite und verschwand in ihr Zimmer, kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

Eine Weile war vergangen, als es an ihre Tür klopfte.Leyla saß weinend und schluchzend auf ihrem Bett, die Beine an die Brustgezogen, die Arme daraufgelegt und darin versteckt ihr Gesicht.
„Ja", presste sie mit rauer, tränenerstickter Stimme heraus.
„Leyla", hörte sie Milans Stimme.
„Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass...keine Ahnung. Ich weiß ja nicht, waspassiert ist. Aber ich hab wohl was falsch gemacht und...kann ich es irgendwiegut machen?"
Das schlechte Gewissen in seiner Stimme brach ihr das Herz.
„Nein", sagte sie schniefend, „Schon okay. Das konntest du ja nicht wissen."
Die Matratze bewegte sich, Milan hatte sich daraufgesetzt. Sie spürte, wie ervorsichtig ihr Bein ertastete und ihre Hand suchte. Für einen Moment wollte siesich weigern, aber sie brachte es nicht übers Herz. Er hatte es nur gutgemeint, er hatte ihr doch nur eine Freude machen wollen. Dass er dabei dasfalsche Geschenk erwischt hatte, war nicht seine Schuld. Also streckte sie ihreHand seiner entgegen und fühlte sich ein bisschen besser, als seine warmenFinger ihre umschlossen.
„Ich hab es mit deiner Mutter gekauft und sie hat mir nicht gesagt, dass esdich so aus der Bahn werfen würde", sagte er leise.
„Sie wusste es ja auch nicht. Ich hab es nie jemandem erzählt. Das war eineSache zwischen mir und..."
Sie brach ab. Sie konnte es nicht aussprechen, die Worte blieben in ihrer Kehlestecken. „Egal. Auf jeden Fall konnte sie es nicht wissen."
Milan gab einen nachdenklichen Laut von sich und fragte dann anschließendvorsichtig: „Erzählst du mir davon"
Leyla schüttelte mit dem Kopf, dann fiel ihr ein, dass er das ja nicht sehenkonnte.
„Nein", schob sie nach, „tut mir leid. Ich kann das nicht, so gerne ich auchwürde."
Der Junge sagte nichts, was Leyla als ein Okay,aber du kannst trotzdem jederzeit zu mir kommen deutete und sie war ihmdankbar. Dafür und auch dafür, dass er sie nicht drängte. Sie hatte ihren Kopfnoch immer zwischen ihren Armen vergraben, so dass Dunkelheit sie umgab, dochsie merkte, dass sich die Matratze erneut bewegte und plötzlich war da MilansArm an ihrem. Umständlich und behutsam legte er erst einen Arm um sie undschließlich den anderen, zog sie an sich heran und eine erneute Tränenwellepackte sie, sie weinte, heulte regelrecht, hemmungslos und laut.
„Lass es ruhig raus", murmelte er und legte seine Lippen auf ihren Kopf, fastso, als wollte er sie küssen. So saßen sie schweigend da, die Zeit verlorjegliche Bedeutung.     

FarbenblindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt