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Milan stand vor der Tür und wollte eigentlich gar nicht erst hinein. Er kämpfte den Drang nieder, einfach zu Leyla rüberzugehen. Sein Gefühl sagte ihm, dass ihn darin eine unangenehme Situation empfangen würde und darauf wollte er verzichten. Andererseits wusste er auch, dass weglaufen nichts brachte. Seufzend klingelte er, er hatte seinen Schlüssel vergessen. Sehnsüchtig wünschte er sich, dass seine Nachbarin neben ihm stand, er war sich sicher, dass sie ihn mit ihrer puren Anwesenheit beschützen würde, egal, was ihn erwartete. Obwohl ihn der Gedanke tröstete, machte er ihn auch irgendwie wütend. Nicht auf Leyla, sondern auf sich selbst. Er musste aufhören, sie so zu idealisieren und sich von ihr abhängig zu machen. Abhängigkeit war nie gut und das sagte er als jemand, der von einem Stock abhängig war.
Drinnen empfing ihn – wie er es schon erwartet hatte – der stechende Geruch von Nikotin und verbranntem Tabak. Das wäre eigentlich mittlerweile okay gewesen, er hatte sich damit abgefunden. Aber irgendetwas was anders, das sagte ihm sein Gefühl. Vorsichtig tastete er sich den Flur entlang bis ins Wohnzimmer.
„Hallo, Milan", sagte seine Mutter leise. Ihre Stimme klang anders und für einen Moment konnte er nicht ganz zuordnen, warum. Doch dann begriff er, was los war.
„Mama, warum weinst du denn?", fragte er bestürzt, bewegte sich langsam auf das Sofa zu und tastete sich dort, wo seine Mutter saß, ein Stück entlang, damit er sich neben sie setzen konnte. Es dauerte, aber er schaffte es und er bekam es auch schnell hin, seinen Arm um ihre Schulter zu legen und ihr beruhigend über den Rücken zu streichen. Statt einer Antwort schluchzte seine Mutter einfach. Eine Weile saßen sie schweigend da, ehe sie schließlich stockend ansetzte: „Ich...Simon..."
Am liebsten hätte Milan sie gebeten, zu schweigen, er wollte gar nicht wissen, was sein Bruder getan – oder nicht getan – hatte, dass seine Mutter so sehr weinte.
„Was ist mit Simon?", fragte er stattdessen behutsam.
„Ich hab ihn gefragt, ob er...", sie schluckte tränenerstickt und keuchend, „ob er Weihnachten bei uns sein will und...", Milan spannte sich an, allein der Gedanke daran, Weihnachten mit Simon zu verbringen, löste in ihm Panik aus, „er hat Nein gesagt. Er...er will nicht bei uns sein, wenn du da bist und..." Sie brach ab.
„Jetzt weißt du nicht, was du tun sollst?", fragte er seufzend und war wütend auf seinen Bruder.
„Milan, ich hab ihm gesagt, dass er dann nicht kommen soll"
Ihre Antwort überraschte ihn. Er hätte gedacht, dass sie ihn beten würde, vielleicht bei den Nachbarn unterzukommen, nur für ein paar Stunden, solange Simon da war. Aber niemals hätte er auch nur zu träumen gewagt, dass sie sich gegen ihren Älteren und für ihren Jüngeren entschied.
„Ich...Wow. Das ist...Mama, das bedeutet mir viel.", sagte er, immer noch völlig erstaunt. „Ich will einfach nicht mehr diese Feindseligkeit in diesem Haus haben. Ihr seid doch Brüder, warum begreift er das denn nicht?", erklärte sie und klang dabei so verzweifelt, dass es Milan das Herz brach.
„Er begreift das schon. Aber er will einfach nicht, dass ich sein Bruder bin. Das tut zwar weh, aber ich komme damit schon klar."
Seine Lüge lag ihm schwer auf der Brust. Er war damit in der Vergangenheit nicht klargekommen, er kam jetzt in der Gegenwart nicht damit klar und er würde auch in Zukunft nicht damit klarkommen – aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren, er konnte die Situation nun mal nicht ändern.
„Mama?", fragte er leise.
„Ja, mein Schatz?", erwiderte sie, immer noch tränenerstickt.
„Danke", mehr brachte er nicht heraus. Unsicher tastete er nach ihren Schultern und schlang seine Arme um sie.
„Darf ich?", fragte er leise, während er seine Hände vorsichtig in Richtung ihres Gesichtes bewegte. Sie nickte, er konnte die Bewegung spüren, denn mittlerweile lagen seine Fingerspitzen ganz vorsichtig an ihrem Kiefer. Behutsam tastete er sich voran, spürte ihr Kinn, ihre Lippen und anschließend ihre Wangenknochen, die Nase, die Augen – die sie geschlossen hatte – und Wimpern, die Augenbrauen, bis er zur Stirn angelangt war. Dort ließ er seine Finger für einen Moment ruhen, dann beugte er sich vor und je näher er seiner Mutter kam, desto mehr bewegte er seine Finger weg, bis er schließlich auf die Stirn küsste. Es war ein langer Prozess, aber er spürte, wie seine Mutter anfing, zu beben und erneut schluchzte sie los, stammelte irgendetwas von einem wunderschönen Geschenk, aber ganz verstand Milan sie nicht. Es war ihm auch egal.

Er saß gerade in seinem Zimmer und hörte Klassik,während er verzweifelt versuchte, sich zu den Geigentönen grün und zu derKlaviermusik blau vorzustellen, als es an der Tür klopfte. „Milan, mein Schatz,du hast Besuch", flötete seine Mutter, während sie die Tür öffnete und damiteinen Schwall von stickigem Zigarettenrauch hineinließ. Es gab nur eine Person,die ihn besuchte und das war Leyla, aber die war ja vorher schon einmal dagewesen.
„Okay", meinte er und schob, nachdem er hörte, wie sich Schritte näherten, einunsicheres „Hey?" hinterher.
„Hey, Milan"
Der Klang ihrer Stimme brachte ihn zum Lächeln, aber seine Freude wurde von demGedanken gedämpft, dass etwas passiert sein musste, denn eine andere Erklärungfür ihren erneuten Besuch konnte es ja nicht geben. Oder?
„Was ist passiert?", fragte er und ärgerte sich, dass er die Panik in seinerStimme nicht vollkommen unterdrücken konnte.
„Nichts, alles gut", lachte sie und sofort legte sich die wellenartige Panik,die ihn umspült hatte. „Ich wollte nur fragen, ob du Lust hättest, mit unsWeihnachten zu verbringen?"
Die plötzliche Unsicherheit in ihrer Stimme überraschte ihn. Er war gar nichtmehr gewohnt, dass sie so unsicher klang.
„Klar, würde mich echt freuen. Aber was ist mit meiner Mutter? Sie hat extraSimon abgesagt, damit sie mit mir Weihnachten feiern kann und...", sprudelte esaus ihm heraus. „Milan, alles gut. Ich hab schon mit ihr gesprochen und siekommt mit, wir haben sie auch eingeladen. Mach dir keinen Kopf."
Erleichtert unterdrückte er ein Seufzen, das hätte er seiner Mutter niemalsantun können. „Gut. Danke, dass du das für mich tust.", sagte er schließlichleise, während er sich wünschte, er könnte seiner Dankbarkeit mehr Ausdruckverleihen.     

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