Um ihn herum war es dunkel und doch hatte er das Gefühl, dass alles viel heller und strahlender war. Dabei ergab das keinen Sinn. Woher sollte er wissen, wie es war, wenn alles heller war, wenn er keine Ahnung von Farben hatte? Wenn ihn Worte wie „grün", „violett" und „bernsteinfarben" überforderten und ihm das Gefühl gaben, etwas sehr Wichtiges zu verpassen?
Er war verwirrt und irgendwie...glücklich. Wie konnte es sein, dass ein fremder Mensch ihm das Gefühl gab, dass alles heller war, obwohl er nichts von Farben verstand? Zwei unmögliche Dinge schienen wahr zu werden, gleichzeitig. Am liebsten hätte Milan gelacht, einfach, weil ihm die Welt plötzlich so viel besser erschien.
„Puh", sagte er, „der kleine Kerl strahlt ja echt viel Wärme ab"
Noch immer ruhte seine Hand auf dem kleinen, warmen, weichen Körper des Hundes und ließ sich von dem regelmäßigen Atem beruhigen. Aus einem unerklärlichen Grund war er unfassbar nervös.
„Na ja, ich denke, wir gehen dann mal", meinte Leyla und Milan war sich unsicher, ob da wirklich ein stummes Leider versteckt war oder ob er sich das nur einbildete, weil er es sich so sehr wünschte.
„Ja, ich glaube, der Kleine sollte dringend nach Hause und nicht mit einem wildfremden Blinden kuscheln"
Er lachte, aber selbst er merkte, wie gezwungen das klang. Milan spürte, wie etwas seinen Oberschenkel berührte und das Gewicht, die Wärme, die sich dort breitgemacht hatten, verschwanden.
„Vielleicht sieht man sich ja wieder", sagte Leyla und Milan gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Alpha darf mich gern jederzeit besuchen kommen. Falls er darf und will." „Bestimmt. Bis dann!", stimmte sie ihm zu und ging dann, ohne eine weitere Antwort abzuwarten.Noch Stunden später hatte Milan dieses Hochgefühl, den Eindruck, dass alles leichter und strahlender war. Selig lächelnd saß er in seinem Zimmer auf dem Bett und hörte Musik. Er hatte sich – untypischerweise – für reine Klaviermusik entschieden und ihm wurde klar, dass er diese Art von Musik nun für immer mit Leyla verbinden würde. Selbst, wenn er sie nie wieder „sehen" würde. Aber das war für ihn schon okay, irgendwie. Noch immer spürte er Alphas Fell zwischen seinen Fingern und der Wunsch nach einem Hund überrollte ihn mit einer ungeheuren Wucht, nahm ihm jedes bisschen Luft. Aber das war für ihn schon okay, irgendwie.
Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen. Sein Gehirn, das zuvor noch so leergefegt und „gereinigt" war von allen Gedanken, kam auf einmal nicht mehr damit hinterher, die verschiedensten, verworrensten Gedanken zu produzieren, fast so, als wollte es den Zeitverlust wieder aufholen, als hätte es ein bestimmtes Pensum an Gedanken, das es pro Tag zu erfüllen hatte. Frustriert ließ Milan sich rücklings aufs Bett fallen und merkte, wie sein Kopf an der Wand entlang schrabbte, beinahe hätte er sich den Kopf gestoßen. Seufzend lag er da und starrte an die Decke – so sah es zumindest für Außenstehende aus. Er starrte einfach ins Nichts, weil er nun mal nichts sah. Er fühlte sich plötzlich nicht mehr wie 19, sondern wie 14, als würde er mitten in der Pubertät stecken. Ein zweites Mal die Pubertät durchzumachen, darauf konnte er getrost verzichten.
Innerlich spielte er Leylas Stimme ab, die zwar recht hoch und ein wenig kindlich, aber doch sanft, beruhigend und angenehm war. Unwillkürlich musste er lächeln und freute sich auf das nächste Aufeinandertreffen. Dass es eventuell zu keinem weiteren kam, verdrängte er, glaubte fest daran, dass sie sich nochmal sehen – beziehungsweise in seinem Fall hören – würden. Es war lange her, dass sich ein Mensch so lange mit ihm unterhalten hatte, ohne, dass jedes Wort in Mitleid ertränkt wurde. Allein deshalb musste er sie wiedertreffen.Eisiger Wind umfuhr sein Gesicht, die Sonne schien, aber war kalt. Nervös rutschte er auf der Bank herum, die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben. Es war eine Woche her, dass er Leyla und Alpha kennengelernt hatte. Es war eine Woche her, dass der Jogger hier vorbeigekommen war, was ihn seltsamerweise total runterzog. Und ihn wütend machte, weil er sich so verzweifelt an eine unbekannte Person, ein schlichtes Geräusch klammerte. Milan kam sich dämlich vor, naiv. Er atmete tief ein, versteckte sein Gesicht bis zur Nase im Kragen und atmete dort frustriert wieder aus, was den netten Nebeneffekt hatte, dass seine Haut an den Stellen, an die die verbrauchte Luft stieß, ein wenig wärmer wurde. Er ärgerte sich, nicht ein Buch mitgenommen zu haben. Denn auch, wenn lesen für ihn unfassbar anstrengend war, da er immer noch ein wenig auf Kriegsfuß mit der Brailleschrift stand, beim Lesen ständig stockte, liebte er Bücher. Meistens bevorzugte er Hörbücher, aber in Momenten wie diesen wollte er sie selbst lesen, sich ganz und gar auf die Buchstaben und Wörter konzentrieren, um sich von seinen Gedanken ablenken zu können. Er dachte darüber nach, nach Hause zu gehen, eines der sehr wenigen, wertvollen Bücher, die er hatte, zu holen, entschied sich dann aber dagegen. Was, wenn genau in diesem Zeitraum der Jogger vorbeikam? Wenn er ihn verpasste? Milan würde es nicht wundern, wenn das passieren sollte, er war ohnehin fest davon überzeugt, vom Pech verfolgt zu sein. Also blieb er sitzen und schloss die Augen, etwas anderes hatte er sowieso nicht zu tun. Er wusste nicht, wie lange er so dasaß, aber irgendwann hörte er die Schritte. Hektisch riss er die Augen auf – was sinnlos war, sehen konnte er ja immer noch nicht. Gebannt lauschte er den Schritten und stellte erstaunt fest, dass die Schritte langsamer wurden. Und näherkamen. Irritiert drehte er den Kopf in die Richtung der Person – und lächelte, als er die Stimme hörte, wiedererkannte, als sie sagte: „Hey, Milan, ich bin's..."
„Leyla, hi!", unterbrach er sie freudig, beinahe schon zu enthusiastisch, aber jetzt konnte er es nicht mehr zurücknehmen. „Wie geht's Alpha?"
„Dem geht's gut", erwiderte sie und Milan konnte nicht anders, als zu fragen: „Joggst du das erste Mal hier?" Leyla lachte. „Nein, schon eine ganze Weile, jeden Tag."
In seinem Hirn ratterte es, dann sagte er: „Dann kanntest du mich also schon, als wir uns getroffen haben?"
„Ja", meinte sie verlegen, „aber ich garantiere dir, das war Zufall!"
Die Ehrlichkeit, die Leyla versprühte, brachte Milan zum Grinsen.
„Was ist so lustig?", fragte sie und klang unsicher.
„Nichts, alles gut. Ich hab nur darüber nachgedacht, dass ich die ganze Zeit dachte, du wärst ein Kerl"
Jetzt musste auch Leyla lachen.
„Sorry für die Enttäuschung. Aber freut mich, dich wiederzutreffen"
„Na ja, du bist ja auf mich zugekommen", wandte er ein.
„Stimmt auch wieder. Hätte nicht gedacht, dass ich mich sowas traue"
Wieder lag da diese Unsicherheit in der Stimme und Milan war sich sicher, dass Leyla generell ein ziemlich unsicherer Mensch war und das nichts mit seinem Handicap zu tun hatte.
„Du bist ja auch schon auf meiner Terrasse gestanden"
Wieder grinste er.
„Das war was anderes! Und ich hätte ja einfach weiterlaufen können und du hättest nie erfahren, dass ich ich bin!", protestiere sie.
„Hmm", machte Milan und fuhr dann sanft und leiser fort, „aber ich bin froh, dass du's nicht getan hast."
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Farbenblind
Teen Fiction»„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. „Weiß", erwiderte sie. „Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd. „Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass...