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Als sie neben ihm saß, spürte er, wie die Matratze unter ihm bei jeder ihrer Bewegungen für einen Moment ein wenig einsank. Irgendwie beruhigte ihn das, gab ihm das Gefühl, dass er nicht allein war – und die Wärme, die Alphas Körper ausstrahlte verstärkte dieses Gefühl nur. Milan fühlte sich einfach nur wohl.
Eine Weile verging und er spürte, wie sein Arm Leylas berührte. War er an sie ran gerutscht, ohne es zu merken? Hatte sie sich zu ihm hinbewegt? Oder waren sie gegenseitig aufeinander zu gerutscht? Eigentlich war es ihm egal. Er spürte Leylas Anwesenheit und das reichte ihm. Es war alles gut, so, wie es war. Und er hatte den Eindruck, dass um ihn herum alles heller erschien, endlich, nach so langer Zeit – und das, obwohl er noch immer nicht wusste, was genau hell und dunkel überhaupt genau waren. Er wusste nicht, wie lange sie so dasaßen und schwiegen, aber irgendwie durchbrach er die Stille mit der Frage „Leyla, kannst du mir die Farbe Lila beschreiben?"
Für einen Moment schien sie zu überlegen, welche Musik für sie Lila bedeuteten. Aus irgendeinem Grund überraschte ihn das.
„Gospel", sagte sie schließlich.
Milan kannte das Wort, konnte sich darunter aber nichts wirklich vorstellen und genauso sagte er es ihr auch. Kurz war es ganz still und er wurde nervös, fühlte sich plötzlich schutzlos und angreifbar – und das, obwohl Alpha und Leyla, die einzigen beiden, die ihm diese Gefühle nahmen, doch direkt bei ihm waren. Unsicher rutschte er hin und her, bis Leyla ihm vorsichtig die Hand auf den Arm legte.
„Hey, bleib ruhig. Es ist alles okay. Ich suche nur gerade ein Gospelstück für dich raus. Es ist alles okay."
Es ist alles okay. Diesen Satz prägte er sich ein, genauso beruhigend, wie Leyla ihn gesagt hatte und er war sich sicher, dass das sein neues Mantra werden würde. Noch während er darüber nachdachte, drang plötzlich Musik an sein Ohr und er drehte verwirrt den Kopf in Leylas Richtung. Die Musik stoppte und Leyla lachte: „Ich hab eins auf meinem Handy gefunden"
Am liebsten hätte Milan sich selbst geohrfeigt, weil er nicht daran gedacht hatte, dass Leyla, die ja schließlich sehen konnte, ein Handy besaß.
„Oh", murmelte er beschämt und das Mädchen kicherte. Dann legte sie den Kopf auf seine Schulter – eine Geste, die Milan vollkommen überraschte und dafür sorgte, dass ihm tausend Gedanken durch den Kopf jagten – und spielte die Musik weiter ab. Milan mochte Gospel, es war etwas anderes, erfrischendes, fröhliches und irgendwie etwas familiäres, fand er. Unwillkürlich musste er lächeln, die Situation war nahezu perfekt. Alpha lag auf seinem Schoß, Leylas Kopf ruhte auf seiner Schulter und er lernte neue, wunderschöne Musik kennen. Doch trotz allem störte ihn etwas, ein Gedanke, der ihm seit Jahren im Hinterkopf festhing und den er ignorierte, so, wie jetzt. Er würde nicht zulassen, dass der Gedanke an Simon alles zerstörte. Es ist alles okay.
„Das ist schön.", meinte er und er spürte, wie Leyla nickte.
„Erzählst du mir mehr über Lila? Bitte", bat er sie. Leyla lachte kurz auf und sagte schließlich: „Lila bedeutet für mich Leben. Und Sehnsucht."
Das warf ein paar Fragen auf und das schien auch ihr aufzufallen.
„An den Handgelenken schimmern immer ein paar kleine feine Adern durch, die sind lila. Blut ist Leben, verstehst du? Und das spürt man in gewisser Weise auch. Ich...darf ich kurz dein Handgelenk haben?"
Diese Info faszinierte Milan und er fühlte sich wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal in den Garten durfte und die Welt um sich herum entdeckte – nur, dass er zum Entdecken der Welt eine Menge Hilfe brauchte. Wortlos streckte er Leyla seine beiden Hände hin, gespannt, was sie als nächstes tun würde. Als sie nach seiner rechten Hand griff und den Ärmel ein bisschen nach oben schob, sodass die Haut frei lag, bekam er Gänsehaut, wusste allerdings nicht, ob es an der Berührung an sich lag oder daran, dass ihre Hände kalt waren. Vielleicht ja auch an beidem. Dann nahm sie seine andere Hand, knickte den kleinen Finger, den Ringfinger und den Daumen ab, sodass nur noch Mittel- und Ringfinger ausgestreckt waren und legte sie auf die nackte Haut seines rechten Handgelenkes.
„Spürst du, wie es pulsiert?", fragte sie, leicht unsicher und doch lächelnd, das konnte er deutlich heraushören.
„Ja", erwiderte er und strahlte sie an. Zumindest glaubte er das, er wusste ja nicht, wo genau sich ihr Gesicht befand.
„Das ist Leben.", hauchte sie, als wäre es das Unglaublichste der Welt.
„Und was ist mit der Sehnsucht?", fragte er, denn dieses Wort hatte ihn irgendwie besonders gepackt. Endlich hatte er nicht nur Worte für dieses Gefühl, sondern konnte es mit einer Farbe unterstreichen – oder besser gesagt, umgekehrt.
„An was hast du gedacht, als ich dir den Gospelgesang vorgespielt habe? Was hast du empfunden?", stellte sie die Gegenfrage. Das überraschte ihn, er war es nicht gewohnt, dass sie Gegenfragen stellte.
„Ich weiß nicht. Ich fand...es schön. Es war irgendwie neu, erfrischend und fröhlich und...keine Ahnung, irgendwie hat es mich an Familie erinnert.", stammelte er, bereute den letzten Teil. Familie war immer ein schwieriges Thema gewesen und dass er plötzlich Musik damit verband, erschien ihm irgendwie falsch.
„Mir geht's genauso. Mich erinnert es auch an Familie und danach sehne ich mich, schon unglaublich lange."
Ihre Stimme war leise und irgendwie traurig und er fragte sich, ob er irgendwas sagen sollte. Oder ob er sie fragen sollte, warum sie sich so nach Familie sehnte.     

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