43

106 10 3
                                    

Bildete sie sich das ein oder bedrückte ihn etwas? Dachte er auch die ganze Zeit über seine Vergangenheit nach, versuchte er, gegen die Details anzukämpfen, die er ihr verschwiegen hatte? Leyla war sich unsicher, ob sie nicht einfach ihre eigenen Gedanken auf den Jungen neben sich übertrug. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, sie konnte nicht aufhören, über das, was er ihr über seine Vergangenheit erzählt hatte, nachzudenken.
„Ich möchte dir trotzdem etwas schenken, auch, wenn es verdammt schwer wird", erwiderte Milan trotzig.
Leyla schnaubte amüsiert, er erinnerte sie ein bisschen an ein kleines Kind.
„Schenk lieber Alpha was, das ist einfacher, glaub ich", lachte sie und bewegte ihren Kopf so, dass sie sein Gesicht, das zwar zur Seite gedreht, aber nicht direkt in ihre Richtung gerichtet war, sehen und es eingängig betrachten konnte. Die dunkelblonden Haare, die seit ihrem ersten Treffen ein Stück gewachsen waren und die man, fand sie, hätte schneiden müssen. Die engstehenden Augenbrauen, unter denen sich auf der linken Seite das kleine Muttermal versteckte, über den braunen Augen, die durch die Blindheit einen leeren Schimmer hatten und doch so voller Leben waren, fast so, als hätte er die schönste Sache der Welt gesehen und nun erfüllt war mit Liebe, Glück und Lebensfreude. Die krumme Nase, die irgendwie zu klein wirkte. Der leicht schiefe Mund. Die tiefe Kinngrube, die ein wenig an die Muskelprotze aus Comics erinnerte. Das alles war zusammengesetzt worden und in ein rundes Gesicht gesetzt worden, das auf eine schräge Weise doch kantig war und obwohl nichts zusammenzupassen schien, wirkte es doch irgendwie...richtig. Leyla wusste nicht, wie oft sie sich Milans Gesicht noch ansehen musste, bis sie vollkommen begriffen hatte, dass er wirklich echt war und nicht ein Hirngespinst ihrer Fantasie, ihres einsamen, schweren Herzens. Aber die Körperwärme, die er ausstrahlte, half ihr dabei, gegen den Gedanken anzukämpfen, dass das alles hier nur ein Traum war. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, was sie spürte, roch und hörte, hoffte, dass sie Milan dadurch ein Stück näher war. Die Dunkelheit umschloss sie, legte sich um sie wie ein Mantel. Alles, was jetzt noch zählte, war Milans Arm, der neben ihrem lag, seine Schulter an ihrer Schläfe, sein Atem, der ganz sanft, kaum merklich, über ihr Gesicht strich, die Matratze unter ihr. Das Ticken einer Uhr, das Rascheln der Bettdecke und des Kissens, wenn sich einer der beiden ein wenig bewegte, ab und an ein Auto, das am Haus vorbeifuhr, die Schritte einer Person, die vorbeihastete, leise Musik, die ein paar Häuser weiter abgespielt wurde und Leyla fragte sich, wie laut sie wohl aufgedreht war. Der scharfe Zigarettenrauch, der durch die Türritzen kroch und sich langsam in Milans Zimmer ausbreitete, Milans Geruch selbst, den sie nicht ganz bestimmen konnte, das Waschmittel, mit der die Bettwäsche gewaschen wurde. Während sie sich darauf konzentrierte, vergaß sie alles, worüber sie sich sonst Gedanken gemacht hätte. Sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft waren auf einen Schlag vollkommen unwichtig. Alles, was zählte, waren der Moment und Milans Anwesenheit. „Worüber denkst du nach?", fragte Milan. Seine Stimme, die die Stille durchschnitt, ließ sie leicht zusammenzucken.
„Über das Jetzt", erwiderte sie schließlich.
„Das ist ein schöner Gedanke", meinte er leise.
„Und du?"
„Ich...auch"
Seine zögerliche Antwort verriet, dass er nicht über das Jetzt nachdachte, zumindest nicht nur. Da war noch etwas anderes, aber Leyla fragte nicht weiter nach. Gedanken waren etwas sehr Privates, Intimes. Wer seine Gedanken teilte, machte sich nackt, zumindest emotional betrachtet. Und sie wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass sie ihn entblößen und angreifbar machen wollte. Das wäre unfair gewesen.

Stunden später lag sie im Bett, allerdings in ihremeigenen. Neben ihr war Leere und sie wünschte sich, dass Milan neben ihr lag.Milan, der ihr das Gefühl gab, sie beschützen zu können, einfach, weil er dawar. Nicht vor Leuten wie Simon oder Charlotte. Sondern vor ihren dunklen,harten Gefühlen und Gedanken. Und das war ihrer Meinung nach kostbarer alsjeder Bodyguard, der sich vor eine Kugel warf. Denn das konnte jeder, abernicht jeder schaffte es, die bitteren Gedanken einer anderen Person zumSchweigen zu bringen oder zumindest dafür zu sorgen, dass sie leiser wurden. Sieglaubte nicht an Gott, aber sie betete trotzdem, dass sie Milan nicht mehrverlieren würde.     

FarbenblindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt