Ein stürmisches Klingeln weckte ihn. Aber es war nicht das Klingen, das er von zu Hause kannte, was ihn irritierte. Aber auch die Bettdeckte fühlte sich anders an und der Geruch im Raum war nicht der übliche. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass er nicht in seinem Bett lag, sondern in Leylas.
Zehn Minuten später führte Leyla die Treppe nach unten ins Wohnzimmer. Er hörte, wie jemand weinte.
„Mama", rief er aus, halb überrascht, halb bestürzt. „Was ist passiert?"
Es dauerte einen Augenblick, bis seine Mutter antworten konnte.
„Du warst einfach weg und ich hab mir Sorgen gemacht", antwortete sie, unterbrochen von Schluchzern und Schniefern.
„Warte mal, deine Mutter wusste gar nicht, dass du hier bist?", schaltete sich Leyla ein und klang vorwurfsvoll.
Milan schwieg, was sie als „Ja" zu deuten schien.
„Ich fass es nicht!", rief sie aus und entschuldigte sich anschließend mehrfach bei Frau Rattner. Auch er wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was und auch nicht, wie er es formulieren sollte, also hüllte er sich weiterhin in Schweigen.
„Warum?", brachte er dann schließlich heraus. „Warum bist du hier und behauptest, du hättest dir Sorgen gemacht?"
Er war wütend und fühlte sich verraten.
„Behaupten?", empörte sich seine Mutter. „Behaupten? Ich behaupte das nicht, es ist so!"
„Ach, und seit wann bitteschön?"
„Schon immer? Verdammt, du bist mein Sohn und du bist blind, ich mache mir immer Sorgen um dich!"
„Oh, wow, davon habe ich ja schon eine ganze Weile nichts mitbekommen", spottete er.
„Was soll das denn heißen?"
„Jedes Mal, wenn irgendetwas mit Simon ist – der, mal ganz nebenbei, nicht besonders nett zu mir ist und mich verprügelt hat –, hast du nichts Besseres zu tun, als das ganze Haus vollzuqualmen. Du machst dir keine Sorgen um mich, hör auf, dich selbst zu belügen!", schloss er keuchend und merkte erst jetzt, dass er immer lauter geworden war.
Milan wusste, dass er sich nicht ganz fair ihr gegenüber verhielt, immerhin hatte sie ihn an Weihnachten über Simon gestellt. Und obwohl das gerade mal eine Woche her war, hatte er das Gefühl, als wäre es vor Jahren gewesen. Er spürte etwas an seinem Arm, eine Hand, ganz leicht und er zuckte zusammen.
„Milan, ich glaub, es ist besser, wenn wir mal kurz woanders hingehen", sagte Leyla leise und klang dabei etwas besorgt. Sanft zog sie ihn mit sich. Er wusste nicht, wohin sie ihn brachte und das machte ihn unruhig. Er hatte hier keinerlei Orientierung und war von Leyla vollkommen abhängig.
„Wir gehen erstmal hoch und reden, okay? Achtung, Stufe", informierte sie ihn.
Langsam arbeiteten sie sich die Treppe hoch und wieder einmal bewunderte er ihre Geduld.
Als er sich auf Leylas Matratze setzte, fühlte sie sich weicher an als letzte Nacht.
„Also, erzähl schon, was ist los?", fragte Leyla und klang dabei besorgt und aufrichtig interessiert, keineswegs auf eine egoistische Weise neugierig.
„Ich...keine Ahnung", murmelte er, was gelogen war und Leylas „Hm" zeigte, dass sie das wusste. Trotzdem drängte sie ihn nicht. Mit jeder Sekunde bewunderte Milan sie mehr, war ihr immer dankbarer. Es war, als wäre in ihr kein Stück Böses, er konnte sich nicht vorstellen, dass sie Emotionen wie Hass, Neid und Eifersucht jemals auch nur ansatzweise empfunden hatte. Ihre Speicher mussten randvoll sein.
„Es ist nur...seit mein Vater abgehauen ist, ist sie total depressiv. Meine Mutter ist ihrer Depression und Trauer ertrunken und wenn sie es geschafft hat, sich mal nicht nur mit ihrem Schmerz zu beschäftigen, stand mein Bruder an erster Stelle. Als wäre ich eine Last, nichts weiter. Und als Simon dann...als er dann auch gegangen ist und sie mit mir allein war...Das hat sie endgültig umgebracht, glaube ich. Sie hatte dann also nur noch sich und ihren Schmerz. Und mich, eine blinde, hilflos, unnütze Last." Zitternd rang er nach Luft. „Versteh mich nicht falsch, sie hat mich nie beleidigt oder geschlagen oder so und ich glaube, dass ein Großteil von diesem...diesem Gefühl, eine Last zu sein, auch von mir ausgeht. Oder vielleicht ist es auch Simons Schuld. Keine Ahnung. Aber jetzt...wo Simon...wieder da ist, hab ich das Gefühl, dass ich wieder egal bin. Verstehst du? Es war, als...hätte sie sich damit...abgefunden, dass ich das letzte Bisschen von ihrer Familie bin, das sie noch hatte. Bis, na ja, bis Simon wieder da war. Meine Mutter hat ein Stück ihrer Familie zurück – nur nicht so, wie sie es gern hätte und ich glaube, damit kann sie nicht umgehen."
Milan wollte noch so viel mehr sagen, doch es war, als wäre seine Stimme ausgelaugt. Aus ihm kam nichts mehr heraus.
„Milan", sagte Leyla leise, zögerlich, und Milan beschlich ein ungutes Gefühl. „Ich...ich will dir nicht zu nahe treten, aber...ich glaube, du unterschätzt, wie anstrengend es sein kann, sich um einen Blinden zu kümmern. Ich meine, das rechtfertigt nicht das Verhalten deiner Mutter, aber...sowas ist nicht einfach und..."
Sie brach ab. Er fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen.
„Was weißt du denn bitte über sowas? Ich glaube kaum, dass du so viel mitbekommen hast, so lange kennen wir uns ja auch noch nicht", erwiderte er aufbrausend, verletzt. Er fühlte sich unverstanden und das ausgerechnet von Leyla.
„Ich weiß, aber...Ach, vergiss es", murmelte sie niedergeschlagen und ihn packte das schlechte Gewissen.
„Tut mir leid", wisperte er und streckte die Hand aus, in die Richtung, aus der Leylas Stimme gekommen war.
„Lass gut sein", winkte sie an, klang dabei aber alles andere als gleichgültig.
„Ich...vielleicht geh ich besser", meinte Milan und Leyla gab ein bestätigendes Geräusch von sich.
DU LIEST GERADE
Farbenblind
Novela Juvenil»„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. „Weiß", erwiderte sie. „Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd. „Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass...