5

243 15 1
                                    

Leyla rannte, bis die kalte Herbstluft in ihren Lungen brannte und scharf wie ein Pfefferminzbonbon ihren Rachen und ihre Luftröhre hinunterkroch. Keuchend blieb sie stehen und sah sich um. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie realisierte, dass sie in dem kleinen Park ganz in der Nähe gelandet war. Langsam ließ sie den Blick schweifen und ärgerte sich darüber, dass ihr ein kleines Lächeln übers Gesicht huschte. Energisch wischte sie sich über den Mund, fast so, als wollte sie sich diesen kurzen Moment voller Emotion aus dem Gesicht reiben. Emotionen sind nichts Schlimmes, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Und natürlich waren sie das nicht, das wusste Leyla, nicht alle zumindest. Außer...außer es ging um ihren Vater – und dieser Park erinnerte sie an ihn, er war der Grund, warum ein Lächeln in ihrem Gesicht aufgetaucht war, ganz heimlich und überraschend.
Für einen Moment verharrte sie, unsicher, was sie jetzt tun sollte, dann bewegten sich ihre Beine von ganz alleine, sie rannte zwar nicht, aber es war doch relativ schnell. Sie wollte weg – mal wieder – aber wusste nicht, wohin. In diesem Moment zählte nicht das Ziel, sondern nur der Weg.
Während sie durch den Park joggte, merkte sie, wie ihre Gedanken sich langsam verflüchtigten, sich langsam in Nebel auflösten, bis ihr Kopf nahezu leer war. Alles, was in diesem Augenblick von Bedeutung war, war das, was sie wahrnahm. Das Rauschen der trockenen Herbstblätter, die noch an den Bäumen hingen, sich an die Zweige klammerten, als hätten sie Angst davor, den Weg nach unten auf sich nehmen zu müssen. Die Herbstsonne, wärmend und doch irgendwie kalt, die sich in jede noch so kleine Lücke presste, in die sie hineinkriechen konnte. Der Kies, der unter ihren Füßen knirschte. Das Geräusch ihrer Schritte. Ihre Ausdauer, die sie selbst überraschte. Aus dem Augenwinkel nahm sie einen jungen Mann war, der auf einer der Parkbänke saß und den Kopf in den Nacken gelegt hatte. Sie vermutete, dass er schlief. Leyla musste ein Lachen unterdrücken – egal, wie müde sie war, in der Öffentlichkeit blieb sie wach. Um jeden Preis. Dafür blamierte sie sich zu ungern. Vielleicht war es ihm aber auch einfach nur egal, was die Leute von ihm dachten, vielleicht waren ihm seltsame Blicke ja auch vollkommen egal. Beim Gedanken daran, dass ein Mensch so unbekümmert sein konnte, zog sich ihr Magen zusammen und ein neidvolles Seufzen krabbelte ihre Kehle hoch, schwang sich ein wenig am Gaumen hin und her, bis Leyla ihn energisch wieder runterschluckte. Es musste nicht unbedingt positiv sein, eine unbekümmerte Einstellung zu haben, genauso, wie es nicht unbedingt schlecht war, sich eben doch zu kümmern. Wütend bemerkte sie, dass sie zwar immer noch durch den Park trabte, ihr Kopf aber wieder vollgestopft war. Vollgestopft mit Gedanken darüber, ob es positiv oder negativ war, sich Gedanken zu machen.

Zuhause spielte ihre Mutter immer noch – oder wieder? – Klavier. Kaum drangen die sanften Töne an Leylas Ohren, sah sie vor sich blaue Kreise. Je höher die Töne, desto heller das Blau und Leyla erkannte das Klavierstück, kannte die Farbabfolge inzwischen nahezu auswendig. Es war das Lieblingsstück ihrer Mutter, das Stück, mit dem sie selbst groß geworden war. Plötzlich zuckte irgendein Muskel in ihr und wie ferngesteuert bewegte sie sich, Ballett tanzend, in Richtung Klavierzimmer. Sie vermisste das Ballett, das Tanzen, die Bewegung, die Konzentration. Sie vermisste es unglaublich, aber wie sollte man eine Rolle spielen, wenn immer Farben dazwischenfunkten, Farben, die teilweise nicht mal ansatzweise zur Rolle passten? Die Synästhesie war ein Grund, warum sie aufgehört hatte und auch der offizielle. Über die anderen Gründe wollte sie gar nicht nachdenken.
„Oh, hallo, Ley", rief ihre Mutter ihr fröhlich über die Musik hinweg zu. Leyla erwiderte die gute Laune ihrer Mutter mit einem Strahlen und hoffte, dass sie damit ihre eigentliche Gefühlslage verbergen konnte. Noch etwas, worüber sie auf keinen Fall nachdenken wollte. Also tanzte sie einfach weiter. Bewegung war gut. Bewegung vertrieb die Gedanken, vor allem die dunklen, erdrückenden.
Sie vermisste das Ballett so sehr, eine Welle der Emotionen überrollte sie. Weitertanzen, weitertanzen, weitertanzen. Es würde alles in Ordnung kommen. Das musste es doch. 

FarbenblindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt