Es war seltsam, mit dem blinden Nachbarsjungen über ihren Vater zu reden, der...Sie schaffte es nicht, den Gedanken zu beenden. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, sie konnte seine Fragen, die unausgesprochen in der Luft lagen – Was ist passiert? Willst du darüber reden? Erzählst du mir davon? – nicht beantworten.
„Ich...tut mir leid. Ich kann das nicht", flüsterte sie tränenerstickt. Sie traute sich nicht, ihm in die Augen zu sehen und das, obwohl er es nicht einmal bemerkt hätte. Sie brachte es einfach nicht über sich. Stattdessen starrte sie einfach nur ihre Hände, die sie in ihren Schoß gebettet hatte. Alpha, der von Milans Schoß aufgestanden war, drängte sich nun gegen Leyla und versuchte, sie aufzumuntern, was sie tatsächlich zum Lachen brachte.
„Wie alt ist Alpha jetzt eigentlich?", lenkte Milan ab und Leyla war ihm dankbar dafür.
„Drei Monate. Wir müssten ihn und die anderen eigentlich langsam abgeben, aber wir warten, bis Weihnachten vorbei ist. Weder meine Mutter noch ich möchten, dass sie als Geschenk unter dem Weihnachtsbaum sitzen und nach einem Jahr im Tierheim landen.", erwiderte sie und der Gedanke daran, dass einer der Welpen als kurzweiliges Geschenk enden könnte, zerriss ihr das Herz.
„Das ist absolut nachvollziehbar. Und es wird ihnen bestimmt auch nicht schaden.", meinte Milan nachdenklich.
„Das heißt, ich muss mich dann in ein paar Wochen von dem Kleinen verabschieden?", fuhr er fort und die Enttäuschung in seiner Stimme zerriss ihr Herz nur noch mehr.
„Ja, leider. Ich hab meine Mutter schon gefragt, ob wir ihn nicht behalten können, aber sie hat abgelehnt. Ich kann sie ja verstehen, aber es bricht mir trotzdem das Herz."
Sie streichelte den Schäferhund und lächelte traurig vor sich hin. Sie wollte ihn nicht abgeben, wollte nicht, dass das Einzige, das ihr Trost spendete, vor allem, wenn sie Milan vermisste, einfach so verschwand und ein neues Zuhause bekam. Alles in ihr wehrte sich dagegen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, so ungern sie sich das auch eingestand. Milan nickte verständnisvoll und eine Welle von tiefer Zuneigung ergriff sie. Scheinbar ging es Milan ähnlich, denn er tastete vorsichtig nach ihrem Gesicht, so zaghaft, als wäre sie aus Glas und berührte vorsichtig ihre Wange mit dem Daumen. Leyla war so überrascht und fasziniert davon, wie sanft er war, dass sie gar nicht richtig bemerkte, wie sich sein Gesicht näherte und er sie küsste – oder es versuchte, denn seine Lippen landeten halb auf ihren und halb auf ihrer Wange. Während er sich wieder löste, lächelte sie.
„Ich schätze, wir sind quitt", grinste sie und kam sich dämlich vor, kaum, dass sie es ausgesprochen hatte. Aber Milan wirkte selbst etwas irritiert.
„Ich...äh...keine Ahnung, was das sollte. Oh Gott. Tut mir leid", stammelte er.
„Alles gut, mach dir keine Gedanken. Mir ging es doch auch so. Oder geht es so. Was weiß denn ich. Aber...wenn du willst, dann geh ich?"
Das Fragezeichen war voller Hoffnung und Angst. Hoffnung, dass er sagte, sie könne ruhig bleiben. Angst, dass er sagte, sie solle bitte gehen.
„Nein, bitte bleib", sagte er leise und Leyla wäre vor Freude am liebsten aufgesprungen. „Gerne", erwiderte sie stattdessen ruhig, konnte jedoch ein freudiges Strahlen nicht unterdrücken. Ihr Gegenüber schien ihr Grinsen herauszuhören und grinste zurück. Alpha fiepte.
„Oh, ich glaube, er muss raus", meinte sie entschuldigend.
„Ich komm mit, wenn es okay ist", sprudelte es aus Milan heraus und Leyla lachte, freute sich, dass jemand freiwillig so viel Zeit mit ihr verbringen wollte.
„Klar ist das okay", erwiderte sie und verdrehte gespielt genervt die Augen. Zu spät fiel ihr ein, dass er das ja gar nicht sehen konnte.Sie liefen nebeneinander durch den Park, umringt von Amy, Alpha, Abby und Amor. Bevor sie einfach nur mit Alpha rausgegangen waren, hatten sie noch kurz die anderen drei Hunde abgeholt. Während Amy sich um Abby und Amor kümmerte, lief Alpha zwischen Milan und Leyla.
„Wie eine kleine Familie", lachte er und Leyla stimmte ebenso lachend zu. Alpha bellte kurz, als wollte er ihnen recht geben.
„Weißt du, was mich traurig macht?", fragte Milan rhetorisch, „Der Gedanke daran, dass ich vermutlich niemals eine kleine Familie haben werde. Keine Frau, keine Kinder. Und selbst wenn doch, werde ich niemals wissen, wie sie aussehen, wie wunderschön sie sind." Plötzlich griff er nach ihrer Hand – es war ein schönes, angenehmes Gefühl, fand sie – wandte sein Gesicht in ihre Richtung und sein Gesichtsausdruck ließ sich einfach nicht deuten, so sehr sie es auch versuchte.
„Du meinst, weil du blind bist?", fragte Leyla und konnte einen wütenden Unterton nicht unterdrücken.
„Ja", antwortete er. Obwohl sie seine Antwort schon kannte, machte sie das nur noch wütender. Sie ließ seine Hand los und stieß ein fassungsloses „Das kann nicht dein Ernst sein" aus. Sie wusste selbst nicht, weshalb genau sie so wütend war, warum seine Antwort sie so sehr verletzte. Sie war doch gar nicht ihn verliebt! Sie hatte ihn zwar geküsst, zweimal, aber sie war nicht in ihn verliebt!
„Leyla, ich...", setzte er an, doch sie unterbrach ihn.
„Nein, Milan. Lass es gut sein", fuhr sie ihn an, Tränen stiegen ihr in die Augen. Die Verzweiflung, die in seiner Stimme gelegen und den Schimmer der Seifenblasen getrübt hatte, brach ihr das Herz. Sie wollte sich nicht so verhalten, doch irgendein Teil in ihr schrie sie an, es eben doch zu tun. Verschreckt schwieg Milan und Leyla bereute ihre Reaktion sofort. Aber sie konnte ihre Worte nicht zurücknehmen. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander, bis Leyla sich endlich überwinden konnte.
„Tut mir leid, dass ich so sauer geworden bin, ich war nur..."
Sie brach ab, wusste nicht genau, was sie sagen sollte.
„Schon okay.", meinte Milan einfach nur, „ist schon vergessen."
Er lächelte und erleichtert seufzte Leyla auf, ehe sie nach seiner Hand griff, was sie selbst überraschte. Milan holte ebenso überrascht tief Luft. Damit hatte er nicht gerechnet.
„Hast du eigentlich keinen Blindenstock?", fragte sie.
„Doch, aber ich hasse das Ding, da fühle ich mich so hilflos", erwiderte er und sie nickte. Zu spät fiel ihr ein, dass er sie ja gar nicht sehen konnte. Aber da war schon zu viel Zeit vergangen, als dass eine Reaktion noch irgendwie passend gewesen wäre.
„Wie spät ist es?", fragte er schließlich.
„Es ist ja schon vier!", rief Leyla überrascht aus, nachdem sie einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. Langsam wurde es dunkel und plötzlich rieselten vereinzelte Schneeflocken auf den Boden. Weihnachten rückte immer näher. Ein seltsam euphorisches Gefühl ergriff sie und sie fühlte sich wie ein kleines Kind, freute sich, dass Weihnachten zumindest ein kleines Stück seines Zaubers zurückerlangt haben zu schien. Und sie war sich sicher, dass Milan der Grund dafür war.„Mama?", rief Leyla aufgeregt, als sie den Flurbetrat. Auf dem Heimweg war ihr eine Idee gekommen. Die vier Hunde stürmten indas Haus und schüttelten sich das Schnee aus dem Fell, was Leyla zum Lachen brachte.Sie zog ihre Jacke und ihre Schuhe aus, ehe sie das Wohnzimmer betrat.
„Mama!", wiederholte sie, diesmal energischer. Ihre Mutter schreckte von ihremBuch hoch. „Was denn, Ley?" Leyla unterdrückte den Drang, mit den Augen zurollen, sie hasste diesen Namen.
„Was hältst du davon, wenn wir mit den Rattners Weihnachten verbringen?",fragte sie. „Milan und seine Mutter", fügte sie hinzu, als sie den verwirrtenBlick ihrer Mutter bemerkte.
„Ach so. Ja, klar, gerne. Ich mag ihn und ich würde auch gerne mal seine Mutterkennenlernen" Sie lächelte. „Dann müssen wir uns aber auch ein Geschenk für ihnüberlegen. Was schenkt man einem Blinden denn? Und vor allem noch einem, der sonett ist wie Milan?"
„Alpha", erwiderte Leyla wie aus der Pistole geschossen, ohne überhaupt richtigdarüber nachgedacht zu haben.
„Alpha? Ley, wir hatten doch abgemacht, dass wir dafür sorgen, dass keiner derHunde als Weihnachtsgeschenk unter dem Baum landet", erwiderte ihre Mutter.
„Ja, ich weiß. Aber sieh mal, das zwischen Alpha und Milan ist etwas besonderesund wir kriegen auch mit, falls es schief läuft. Davon abgesehen traue ichMilan absolut zu, dass er Alpha mit seinem Leben verteidigen würde."
Nachdenklich nickte die Frau und meinte anschließend: „Okay, gut. Aber" Bei demWort Aber spannte sich jede Faser inLeylas Körper an. „nur unter der Bedingung, dass wir Alpha zum Blindenhundausbilden lassen. Also, wenn er sich denn dafür eignet und das denke ich schon.Und den ursprünglichen Plan, alle drei als Polizeihunde ausbilden zu lassen,sind wir ja ohnehin nie wirklich angegangen."
Sie grinste und Leyla fiel ihr lachend um den Hals.
„Das ist die beste Idee überhaupt!", rief das Mädchen glücklich.

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Farbenblind
Teen Fiction»„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. „Weiß", erwiderte sie. „Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd. „Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass...