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Bewegen, bewegen, bewegen. Sie musste sich bewegen und weiterlaufen, so lange, bis ihr Kopf leer war. Sie joggte die gleiche Strecke entlang wie gestern, prüfte bei jeder Bank, ob der junge Mann vom letzten Mal dort saß. Aus irgendeinem Grund wollte sie ihn wiedersehen. Nur sehen. Nicht mit ihm reden. Inzwischen zweifelte sie daran, ob sie ihn überhaupt wirklich gesehen hatte. Vielleicht hatte sie sich das alles ja auch nur eingebildet. Sie war sich plötzlich mit allem so unsicher. Selbst mit ihrer...Besonderheit. Vielleicht hatte sie sich die ja auch eingeredet, jahrelang.
Leyla lief weiter und dann – da war er. Er saß dort, einen dunklen Mantel und dunkle Jeans an. Als wolle er möglichst unauffällig sein. Mit einem Mal kam sie sich blöd vor in ihren neonpinken Shorts, die sie aus der hintersten Ecke ihres Schrankes hervorgekramt hatte, und dem weißen T-Shirt, auf das groß und fett Dramaqueen gedruckt war. Leyla hasste das Shirt, was wohl ein Grund war, warum sie es zum Joggen angezogen hatte. Woher hätte sie denn wissen können, dass es ihr plötzlich so dermaßen wichtig war, was andere, eigentlich nur eine Person – eine fremde noch dazu –, von ihr denken könnte. Das war nur irgendein Typ, der auf einer Bank saß. Und doch war da irgendwas, was ihr zuzuflüstern schien, dass es nicht nur irgendein Typ war. Das machte sie wütend, also lief sie weiter, bis er – aus ihrer Sicht – vorbeigezogen, aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Und selbst dann wollte sie immer noch weiterrennen, bis ihre Beine versagten, aber Leyla entschied sich dagegen, sie hatte keinen Grund. Also wurde sie immer langsam und ging irgendwann in einen gemütlichen Spaziergang über. Ein Fehler, wie sie feststellte, denn jetzt dachte sie nur umso mehr nach. Fragte sich, ob der Junge – der Mann? Sie war sich unsicher – sie gesehen und innerlich ausgelacht hatte. Sich über ihre plumpe Laufart und die grässlichen Klamotten lustig gemacht hatte. Es war lange her, dass sie sich so sehr geschämt hatte. Das letzte Mal war bei ihrer letzten Ballettaufführung gewesen. Unwillkürlich drängten sich Bilder davon vor ihr inneres Auge und sie hätte am liebsten wütend geschrien.

Klacken auf der dunklen Bühne, regelmäßig, Schritt für Schritt. Klack, klack, klack. Druck auf den großen Zehen. Stoff, der an der Haut rieb, sanft gegen die Oberschenkel schlug, so leicht, dass es fast nicht bemerkbar war. Alles, was man hörte, war das Klacken der Spitzenschuhe, das Rascheln des Tülls. Unweigerlich fragte sie sich, ob die Zuschauer diese Geräusche auch wahrnahmen oder ob nur Leyla sie hören konnte. In den Lautsprechern knackte es, ganz leise, aber es reichte trotzdem aus, um ihr Herz zum Rasen, ihre Hände zum Schwitzen und ihre Knie zum Zittern zu bringen. Jeden Augenblick würde die Musik einsetzen. Jeden Augenblick würde sie gegen sich selbst ankämpfen müssen. Sie hatte Angst, atmete tief durch und gerade, als sie nochmal den Rücken durchstrecken wollte, ging das Licht an. Jeder konnte sie nun sehen und ihre Angst wuchs, der Gedanke, dass man ihr den inneren Kampf ansehen könnte, machte sie wahnsinnig. Erneutes Knacken in den Lautsprechern, jede Faser ihres Körpers spannte sich an. Augen schließen. Konzentrieren. Augen öffnen. Kon– Wumm! Das Klavier drang laut und plötzlich aus den Lautsprechern, bedrohlich. Ohne nachzudenken blendete Leyla alles um sich herum aus, soweit es möglich war, und fing an, zu tanzen. Sie dachte nicht darüber nach, wie sie ihre Füße, Beine, Arme, Hände bewegen musste – sie tat es einfach und konzentrierte sich umso mehr darauf, das Blau irgendwie auszublenden. Etwas, was nahezu unmöglich war. Wut stieg in ihr auf und sie packte die Wut in ihre Bewegungen. Warf ihre Arme energisch hin und her, legte jede Gefühlsregung in ihre Beine. Es galt nur eines: Die Bewegung, die blauen Kreise waren irrelevant, zumindest redete sie sich das ein, wieder und wieder. Bewegen. Tanzen. Das wars. Mehr nicht. Es zählte nur der Tanz. Nicht die Geigen, die jetzt einsetzten und das Blau mit grünen Wellenlinien versetzten. Die Farben wirbelten um sie herum, beinahe so, als wollten sie sie am Tanzen hindern. Leyla kämpfte mit den Tränen, machte aber trotzdem weiter. Sie musste das hier zu Ende bringen.
Kaum war der letzte Ton verklungen, verschwanden die Farben. Keuchend verharrte sie einige Sekunden in ihrer Situation, Tränen strömten ihr übers Gesicht, die sie schnell durch eine Verbeugung versteckte. Unter Applaus verließ sie, immer noch weinend, die Bühne.
Noch am gleichen Tag meldete sie sich an der Ballettschule ab.

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