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Auf dem ganzen Weg zum Park lächelte sie, es saß wie festgeklebt in ihrem Gesicht, so zufrieden war sie mit der Welt. Sie hatte mit Frau Dr. Mahlberg geredet, hier und da die ein oder andere Notlüge erfunden – und schließlich die Genehmigung für Milan erhalten, dass er einen Blindenhund bekam. Das würde ihr Weihnachtsgeschenk sein – denn Alpha konnte sie ja schlecht in Geschenkpapier wickeln. Bei dem Gedanken daran unterdrückte sie einen Lachanfall.
„Worüber hast du mit Dr. Mahlberg geredet?", fragte Milan.
„Lass dich überraschen", erwiderte sie lächelnd – und sie wusste, dass er ihr Lächeln heraushörte. Leyla hörte, wie er leise seufzte.
„Du wirst dich freuen, auf jeden Fall", versprach sie und ließ ihre Hand so schwingen, dass sie die von Milan wie zufällig berührte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass er dabei für einen Moment lächelte.
„Setzen wir uns auf deine Bank?", fragte sie ihn.
„Gerne", antwortete er und sie lotste ihn durch den Park bis hin zur Bank. Dort half sie ihm, sich hinzusetzen und setzte sich anschließend dicht neben ihn, saugte den Teil seiner Körperwärme, der durch die Klamottenschichten drang, auf und genoss das ruhige Schweigen, das zwischen ihnen herrschte. Irgendwann unterbrach er dieses Schweigen, sagte ruhig, aber traurig gedämpft: „Meine Mutter kommt nicht damit klar, was Simon gemacht hat...Sie raucht jetzt noch mehr"
Der schmerzerfüllte Unterton verfärbte den Goldschimmer der imaginären Seifenblasen dunkler, wie eine verstaubte, dämmrige Glühbirne. Leyla wusste erst nicht, was sie sagen sollte, dann fragte sie „Als wir uns kennengelernt haben, hat sie doch nicht geraucht, oder? Wieso hat sie damit angefangen?" und kam sich dabei schrecklich dämlich vor.
„Das passiert jedes Mal, wenn unsere Familie, also das, was davon übrig ist, ein Stück mehr zerbricht. Ich weiß nicht genau, was der Auslöser war. Ich weiß nur, dass es schlimmer geworden ist, nachdem Simon gesagt hat, er wird nicht mit ihr Weihnachten feiern, wenn ich da bin. Und dann, nachdem er mich...getroffen hat, wurde es noch viel schlimmer.", erzählte er und der Gedanke daran machte Leyla traurig.
„Das klingt, als wäre das schon ein paar Mal passiert", meinte sie nachdenklich.
„Ja"
„Wie lange dauert es denn normalerweise, bis sie wieder damit aufhört? Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, dass du das okay findest. So würde ich dich zumindest nicht einschätzen"
Ihr Interesse war ernst, aber sie hatte trotzdem das Gefühl, dass es geheuchelt klang. „Stimmt. Ich find das wirklich nicht gut, aber meine Mutter ist eine erwachsene Frau und hat sowieso schon genug zu kämpfen, ich meine, es ist nicht einfach, ein blindes Kind großzuziehen. Da kann ich nicht rumjammern, dass sie in der Wohnung raucht. Also, ich könnte schon, aber das will ich nicht. Da würde ich mich schlecht fühlen.", erwiderte er und es faszinierte sie, wie rücksichtsvoll er war. Es war keine große Sache, die eigene Mutter darum zu bitten, nicht die Wohnung voll zu rauchen, wenn man selbst darin noch wohnte, fand sie. Dass er sich selbst hintenanstellte und seine Mutter so dermaßen in den Vordergrund stellte, brach ihr das Herz. Der Gedanke, wie groß sein Herz sein musste, brachte sie zum Lächeln, aber es war geprägt von Trauer und Sorge. Die Chance, dass er dadurch verletzt wurde, war dadurch viel größer und sie fand es unfair, dass jemand, der so ein guter Mensch war, so schnell verletzt werden konnte. Gute Menschen werden nun mal schneller verletzt, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf, doch Leyla ignorierte sie. Wieder machte sich Schweigen breit. Gerade, als sie ihn fragen wollte, ob er ihr mehr von seiner Familie und seiner Vergangenheit erzählen wollte, ob er sich dazu bereit fühlte, sich ihr so zu öffnen, sagte er: „Ich habe da nie wirklich mit jemandem drüber geredet und deswegen fällt mir das jetzt auch sehr schwer, aber..." Er atmete tief durch, ehe er fortfuhr und sich dabei immer verhaspelte: „...ich bin nie drüber hinweggekommen, dass mein Vater...ähm...gegangen ist. Ich komme mit diesen...Schuldgefühlen einfach nicht klar. Es ist...keine Ahnung. Ich habe das Gefühl, dass ich jedem, der mir nahe steht...oder stand...dass ich...dass ich Schuld daran bin, dass ihr Leben...ruiniert ist. Ich denke, ruiniert ist das richtige Wort."
Er schloss den Mund und Leyla wusste, dass er mehr sagen wollte, aber erst einen neuen Anlauf brauchte, den Mut zu sammeln, seine Gedanken in Worte zu fassen und auszusprechen, weshalb sie nichts sagte.
„Ich meine...ich habe ein unfassbar schlechtes Gewissen meiner Mutter gegenüber. Von Simon", er schluckte hörbar, „muss ich gar nicht erst anfangen, oder?" Es war eine rhetorische Frage. „Meine Mutter hat nicht nur ihren Mann verloren, sie stand plötzlich alleine da, mit einem kleinen Kind und einem blinden Baby. Ich will gar nicht wissen, wie sehr sie...mich in diesem Moment gehasst haben muss." Der letzte Teil des Satzes zerriss Leylas Herz in tausende Teile und sie hatte das Gefühl, dass sie sich in ihrem ganzen Körper breitmachten, sich in ihre Muskeln bohrten, in ihrem Magen landeten, in ihren Kopf geschleudert wurden und sie war sich sicher, dass sie es nie wieder vollkommen zusammenflicken können würde – es würde bis zu ihrem Lebensende immer irgendwo winzig kleine Löcher geben.    

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