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Nachdem Leyla gegangen war, blieb Milan noch für einen Augenblick vor der Tür stehen. Er vermisste Leyla jetzt schon. Er wünschte sich, er hätte sie nicht losgelassen. Er wünschte sich, sie hätte nicht gehen müssen. Er wünschte sich, sie würde mit ihm das Haus betreten. Mit ihr an seiner Seite fühlte er sich sicher. Das hatte er heute im Park realisiert, mal wieder. Es war, als würde er solche Dinge bemerken und dann wieder vergessen, nur, damit er die positiven Dinge immer wieder neu erlebte. Vielleicht redete er sich das aber auch nur alles einzubilden.
„Na komm, Alpha, ab ins Warme", meinte er an seinen Vierbeiner gerichtet. Erst jetzt bemerkte er, wie kalt es eigentlich war und er hatte Alpha gegenüber ein schlechtes Gewissen.
Drinnen unterdrückte er einen Hustenanfall. Zigarettenrauch erschlug ihn. Seine Mutter hatte mal wieder in der Wohnung geraucht. Wütend bewegte er sich in Richtung Wohnzimmer.
„Mama", rief er und ließ seinen Frust deutlich heraushören. „Mama!", wiederholte er mit Nachdruck, doch er bekam keine Antwort.
Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Als er Alpha im Flur winseln hörte, fühlte er sich bestätigt. Nervös folgte er dem Winseln. Wenn ihn sein Orientierungssinn nicht täuschte, saß der Rüde vor der Zimmertür seiner Mutter.
„Verdammt", murmelte er und klopfte an die Tür. Dahinter ertönte dumpf ein klägliches „Ja?" und Milan öffnete langsam die Tür. Seine Augen fingen an zu tränen, so sehr brannte der plötzliche Schwall Rauch darin.
„Mama, was...?"
Er brach ab. Ihm fehlten die Worte.
„Milan, mein Schatz, sei mir nicht böse, aber ich möchte nicht darüber reden. Mach dir keinen Kopf, okay?"
Er wusste, dass sie versuchte, zu vertuschen, dass sie bis vor kurzem noch geweint hatte und daran so kläglich scheiterte, dass er am liebsten gelacht hätte, so absurd kam ihm das alles vor. Er wollte etwas sagen, es fühlte sich an, als würde seine Brust gleich platzen, so viel wollte er sagen – aber er schwieg. Mit aufeinandergepressten Lippen drehte er sich um, tastete nach der Klinke und ließ die Tür, nachdem er sichergegangen war, dass Alpha nicht hinter ihm in Schlafzimmer stand, hörbar ins Schloss fallen. Er atmete tief durch, die Augen geschlossen.
„Und jetzt?", flüsterte er während er mit den Tränen kämpfte.

„Was machst du denn hier? Oh Gott, du siehst ja ganzfertig aus! Komm rein. Na, Alpha, passt du auch gut auf Milan auf?"
Leylas Mutter redete so schnell und viel, dass Milan ganz überrumpelt war.Gerade, als er etwas sagen wollte, rief Christiane nach ihrer Tochter undwandte sich danach wieder an ihn: „Komm, ich bring dich ins Wohnzimmer."
Er betrat, in Begleitung von Alpha und Leylas Mutter, zeitgleich mit Leyla denRaum.
„Oh", machte sie und er lächelte verlegen.
„So viel zu „Wir sehen uns morgen", was?"
Für einen Moment schwieg Leyla und alles, was Milan hörte, war einvorbeifahrendes Auto, das Ticken einer Uhr und mehrere trippelnde Hundepfoten –Alpha hatte sich wohl gerade zu seiner Familie gesellt.
„Ich geh dann mal", durchbrach Christiane das Schweigen und Milan verfolgte inGedanken ihre Schritte.
„Setz dich", sagte Leyla rau und ihn beschlich das Gefühl, dass er nicht derEinzige im Raum war, dem es alles andere als gut ging. Vorsichtig suchte ersich einen Weg zum Sofa und setzte sich schließlich. Der Stoff unter seinenFingern gab ihm irgendwie Halt. Das Polster bewegte sich ein wenig, als Leylasich neben ihn setzte.
„Was ist los?", fragten beide gleichzeitig.
„Du zuerst", schob Leyla so schnell hinterher, dass er gar nicht dieMöglichkeit hatte, zu widersprechen.
„Okay", seufzte er. Er wollte gerade anfangen, zu erzählen, als Leyla ihm auchschon wieder dazwischenfunkte.
„Hat es etwas mit Simon zu tun? Soll ich Amy auf ihn hetzen?"
Die Wut in ihrer Stimme beunruhigte Milan ein bisschen.
„Nein", meinte er abwinkend, versuchte, so zu tun, als wäre Simon noch nie vonBedeutung gewesen, „es ist nur...als ich vorhin nach Hause gekommen bin, hat dieganze Bude wieder nach Kippen gerochen, dabei hatte meine Mutter mirversprochen, nur noch draußen zu rauchen. Ich wollte sie also fragen, warum siesich nicht darangehalten hat. Ich hab sie dann in ihrem Bett gefunden und siehat vorher geweint. Es macht mich fertig, dass es ihr so beschissen geht, vorallem so plötzlich. Das letzte Mal, als es ihr so dermaßen schlecht ging, waram...Warte, welchen Tagen haben wir heute nochmal?"
„Den 30.", erwiderte Leyla ein wenig verwirrt.
„Dezember?", fragte er nach, nur, um sicherzugehen.
„Äh, ja. Morgen ist Silvester."
„Das erklärt so ziemlich alles", rief Milan und plötzlich fiel es ihm wieSchuppen von den Augen.
„Was meinst du?"
„Mein Vater hat heute Geburtstag. Und heute ist auch der Tag, an dem er unsverlassen hat."
„Denkst du, Simon hat deswegen...?"
„Ja, auf jeden Fall", knurrte Milan.    

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