37

103 10 0
                                    

„Na ja, ich will mich ja nicht einmischen, aber...Ach so, ich bin übrigens Leyla, Milans Freundin, also, äh...beste Freundin und...", sie stolperte über ihre eigenen Worte, verhaspelte sich und setzte dann, nachdem sie tief durchgeatmet hatte, noch einmal an: „Er wurde von seinem Bruder angegriffen und...na ja, Sie sehen ja seinen Blindenstock, der hat auch ziemlich gelitten."
Sie spürte, wie sich Milan, dessen Hand sie noch immer nicht losgelassen hatte – aus irgendeinem Grund hatte sie Angst, er könnte verloren gehen, wenn sie ihn losließ –, neben ihr anspannte und sie wusste, dass es ihm nicht recht war, dass sie dem Arzt mit den grau melierten Haaren, der ihnen gegenüber saß und ganz beschäftigt tat, um es vermeiden zu können, Milan anzusehen, erzählte, dass seine Wunden von Simon kamen, aber es ging nicht anders. Außerdem war damit die unausgesprochene Frage Warum sieht der Blindenstock denn so mitgenommen aus? auch beantwortet. Dr. Grunsch nickte, als würde er das jeden Tag hören.
„Und jetzt brauchen Sie...?", fragte er, schien etwas ratlos.
„Ich dachte, Sie könnten ihn untersuchen", erwiderte Leyla, irritiert davon, wie gleichgültig der Arzt wirkte.
„Ach so, ja, klar. Soll ich es Ihnen auch gleich attestieren? Dann können Sie ihn auch anzeigen"
Sie riss die Augen auf, daran hatte sie gar nicht gedacht. „Ja, bitte!", sagte sie, während Milan im gleichen Augenblick „Nein, bloß nicht!" rief.
„Ja, was denn jetzt? Ach, ich stell ein Attest aus, ob Sie das dann für eine Anzeige nutzen oder nicht, überlass ich Ihnen, das geht mich nichts an."
Dankbar nickte Leyla.
Als sie das Zimmer verließen, hielt das Mädchen ein Attest und eine Überweisung für den Augenarzt – der Besuch dort war ohnehin fällig und in Anbetracht des Blindenstocks sinnvoll – in der einen Hand und Milans Hand in der anderen. Fröhlich verabschiedete sie sich von den Arzthelferinnen an der Rezeption, während Milan missmutig schweigend neben ihr hertrottete. Kaum hatten sie die Praxis verlassen, sprudelte es aus ihm heraus: „Wir werden ihn nicht anzeigen!"
„Aber das müssen wir! Milan, du hast mehrere Prellungen und er hat deinen Stock kaputt gemacht!", rief sie verzweifelt aus. Ruckartig ließ er ihre Hand los.
„Nein. Leyla, er ist mein Bruder, ich kann ihn nicht einfach so anzeigen. Und davon abgesehen kann ich den verdammten Stock doch eh nicht leiden"
Er klang bestimmt und Leyla merkte, dass er keine Widerworte zulassen würde. Sie hatte zwar keine Geschwister, aber sie konnte sich vorstellen, dass es schwer war, seine eigene Familie anzuzeigen, egal, was sie angerichtet hatten. Und obwohl Simon so ablehnend gegenüber Milan war, schien Milan doch überraschend sehr an seinem Bruder zu hängen, was Leyla das Herz brach. Statt etwas zu sagen, griff sie wieder nach seiner Hand und murmelte leise „Okay. Wie du meinst."

Auf dem Weg von der Arztpraxis weg, merkte sie, wiemüde Milan war.
„Soll ich dich nach Hause bringen?", fragte sie vorsichtig.
„Ja. Aber...kann ich vielleicht zu dir? Nur für ein paar Stunden?"
Er klang zögerlich, als hätte er mit dieser Frage eine unsichtbare,unausgesprochene Grenze überschritten.
„Natürlich", erwiderte Leyla und zusammen gingen sie zu ihr nach Hause.
Kaum hatten sie den Flur betreten, stürmten ihnen vier Hunde entgegen, Amy undvor allem Alpha konzentrierten sich auf Milan, als wollten sie sicherstellen,dass ihm in ihrer Abwesenheit nicht doch noch etwas passiert war, während Amorund Abby sich mehr auf ihr Frauchen konzentrierten. Lachend schob sie diebeiden Hunde zur Seite und zog sich Jacke und Schuhe aus, ehe sie Milan seineSachen abnahm.
„Ist es okay, wenn wir uns ins Wohnzimmer setzen? Ich will dir jetzt ungern dieTreppen zumuten, nachdem...du weißt schon", sie biss sich auf die Lippe, bereuteden Satz, kaum, dass sie ihn ausgesprochen hatte. Sie fühlte sich irgendwiearrogant, dass sie einfach so annahm, Milan würde das nicht schaffen, hatteAngst, dass sie seinen Stolz verletzt hatte. „Ich...äh...also, ich meine...",stammelte sie, wurde rot, die Unsicherheit und Scham erschlugen sie. Doch Milanschien das Ganze ziemlich gelassen zu nehmen.
„Klar", meinte er nur und streckte dann die Hand aus, die unausgesprochenenWorte Bitte führ mich lagen in derLuft, was Leyla ein Lächeln aufs Gesicht zauberte und ihr Herz für einen Momenthüpfen ließ. Dann ergriff sie seine Hand und führte ihn vorsichtig durch denFlur hin zum Wohnzimmer, umringt von den Hunden, die ihnen auf Schritt undTritt folgten. Dabei registrierte sie, wie Milan mit der freien Hand dieUmgebung neben sich abtastete, darauf bedacht, nirgendwo dagegen zustoßen. Alsseine Finger dann schließlich gegen die Sofaarmlehne stießen, sagte Leyla:„Noch zwei, drei Schritte" und dann drückte sie ihn sanft nach unten, nachdemsie sichergestellt hatte, dass er nicht von der Sofakante rutschen würde. Esdauerte keine zwei Sekunden, da lag Alpha auf Milans Schoß, Amor quetschte sichzwischen Milan und Leyla und Amy ließ sich neben ihrem Frauchen nieder undversuchte, Abby davon abzuhalten, ihr das Ohr zu zerkauen. Behutsam tasteteMilan nach Alphas Körper, strich sanft darüber, um auszumachen, wo der Kopf warund kraulte ihm schließlich den Nacken.
„Meine Güte, der ist echt groß geworden. Wenn ich so dran denke, wie klein erbei unserem Aufeinandertreffen war", lachte Milan und Alpha wedelte mit demSchwanz. Leyla wusste, dass der Junge es nicht sehen konnte, aber sie hoffte,dass er das leise Aufschlagen von Alphas Rute auf dem Stoff hörte und wusste,was es bedeutete.
„Ja, es ist wirklich verrückt, wie schnell die Zeit vergeht", murmelte sie undbeobachtete gedankenverloren Abby, die noch immer versuchte, ihre Mutter dazuzu bringen, mit ihr zu spielen. Eine Weile saßen sie schweigend so da, jederhing seinen eigenen Gedanken nach. „Leyla", durchbrach Milan irgendwann dieStille, so leise, dass man es fast nicht hörte. Die kleinen, sanft schimmerndenSeifenblasen, die vor ihrem inneren Auge auftauchten, brachte sie zum Lächeln.
„Ja?", erwiderte sie.
„Danke. Für alles. Wirklich."
Wie aus der Pistole geschossen widersprach sie: „Du musst dich nicht bedanken,ehrlich. Wenn sich jemand bedanken muss, dann ich."
Sie betrachtete ihn von der Seite, suchte das Muttermal unter seinerAugenbraue, doch dann fiel ihr ein, dass es sich auf der linken Seite befandund sie rechts von ihm saß.
„Wieso musst du dich bedanken?", fragte Milan und klang ernsthaft interessiert.
„Bevor ich dich kennengelernt habe...ich habe es gehasst, ich zu sein, mit...meinerBesonderheit. Dass ich Farben sehe, wenn ich Musik höre, du weißt schon. Ichhabe mir so oft gedacht: Schneid dir dieOhren ab. Zerstör dir die Augen. Irgendwas. Aber setz dem Ganzen endlich einEnde. Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, dafür zu sorgen, nicht mehrzu sehen, weil ich mich so sehr dafür gehasst habe. Aber durch dich habe ichgelernt, dass selbst die Dinge, die man an sich nicht leiden kann, für anderegut sind und sogar nützlich sein können. Das ist einfach wirklich großes undwunderschönes Geschenk. Und dafür muss ich mich einfach bedanken.",beantwortete sie seine Frage und kämpfte mit den Tränen. Sie hätte nichtgedacht, dass es ihr so schwerfallen würde, das zuzugeben.
„Ich...oh, wow. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich dazu sagen soll"
Er klang verunsichert.
„Ist schon okay. Daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Aber das istsowieso Vergangenheit, mach dir keine Gedanken.", winkte sie ab, froh darüber,dass er ihre tränenverschleierten Augen nicht sehen konnte.     

FarbenblindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt