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Er wusste nicht, was ihm zurzeit mehr tat: Das Stück Papier, das ihm seine Mutter in die Hand gedrückt und vorgelesen hatte oder die Tatsache, dass Leyla sich scheinbar nicht vorstellen konnte, mit ihm zusammen zu sein. Beides ließ seinen Kopf, seinen gesamten Körper schwer werden und sein Herz noch viel schwerer. Milan hatte anfangs versucht, sich mit dem Es-ist-alles-okay-Mantra zu beruhigen, aber nachdem es nichts gebracht hatte, hatte er Leyla schließlich angerufen – oder besser gesagt, anrufen lassen. Er hatte gehofft, dass es helfen würde, ihre Stimme zu hören, live, in Echtzeit. Ihre Stimme, die aus Worten etwas formte, das nur für ihn bestimmt war. Und in gewisser Weise hatte es geholfen. Er dachte nun weniger über die Karte nach, die im Briefkasten gelandet war. Allerdings drehten sich seine Gedanken nun umso mehr um Leyla. Jede einzelne Faser in ihm schien sich nach ihr zu verzehren, mit einer solchen Wucht, so schmerzhaft, dass Milan sich fragte, wie er das überleben sollte. Diese Art von Schmerz, von Vermissen, kannte er nicht und irgendwie machte sie ihm Angst. Natürlich hatte er Simon vermisst, früher, als er nicht mit ihm geredet und ihn nicht runtergemacht hatte, wann immer sie aufeinandertrafen. Aber das war etwas anderes. Simon war sein Bruder und Leyla...Leyla war...Was genau war sie denn überhaupt? Ihm fielen so viele Dinge ein, mit denen er sie beschreiben wollte. Es fing an mit „beste Freundin" bis hin zu „Anker" und endete schließlich bei „das schönste Mädchen der Welt" – und das, obwohl er sie nie gesehen hatte und das auch niemals tun würde. Aber eigentlich war ihm das auch gar nicht so wichtig. Wenn er genauer darüber nachdachte, war es ihm sogar vollkommen egal, wie Leyla aussah, zumindest, was ihre Attraktivität, ihre Anziehung, die sie auf ihn hatte, anging. Milan begriff, dass das die innere Schönheit war, von der ständig gesprochen wurde. Und wer konnte denn besser beurteilen, wer innerlich schön war, ohne dabei von Äußerlichkeiten geblendet zu werden, als ein Blinder? Er wünschte sich, dass Leyla bei ihm wäre, dann hätte er ihr genau das sagen können – dass sie schön war, dass sie das schönste Mädchen war, das er kannte und dass er ihre innere Schönheit meinte und dass das ja wohl das einzig Wichtige im Leben war. Kaum hatte er das gedacht, kam er sich dämlich vor. Woher sollte er denn überhaupt wissen, dass sie wirklich innerlich so schön war, schließlich hatte er kaum Vergleichsmöglichkeiten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, aus wie wenig sozialen Kontakten sein Leben bestanden hatte, immer noch bestand. Wie einsam sein Leben eigentlich gewesen war und dass Leyla, ebenso wie Alpha, dieser Einsamkeit den Kampf angesagt hatten, ohne es zu wissen. Bei dem Gedanken musste er lächeln.

Er lag im Bett und in seinen Gedanken spielte er immernoch Leylas Stimme ab, immer wieder. Es war zurzeit alles, was er hatte, so kames ihm zumindest vor. Tief in seinem Inneren wusste er, dass das nicht so war,aber irgendetwas in ihm schob dieses Wissen beiseite. Er fand den Gedankendaran, dass da eine Person war, die einem so viel bedeutete irgendwie schön undMilan wünschte sich, jemand würde das Gleiche über ihn denken. Er wünschtesich, Leyla würde das Gleiche über ihn denken. Gab es etwas Schöneres, alseiner Person genauso wichtig zu sein, wie sie einem selbst wichtig war?Vermutlich nicht.
Es klopfte an die Tür.
„Alles okay, Schatz?", drang es dumpf durch die Tür.
„Ja!", erwiderte er, merkte aber selbst, dass er nicht ganz überzeugend klang.
„Kann ich reinkommen?", fragte seine Mutter.
„Von mir aus", meinte Milan, obwohl er absolut keine Lust hatte, jetzt mitseiner Mutter zu reden. Ihm war klar, worüber sie reden wollte und er hattenicht wirklich Interesse daran, mit ihr über die Postkarte zu reden, die heuteim Briefkasten war. Er hatte das Thema doch gerade erst verdrängt.
Die Tür scharrte leise über den Boden, als sie geöffnet wurde und neben denSchritten seiner Mutter hörte er noch ein leises Klack Klack Klack, das von Alpha herrührte. Dem Jungen war ganzentgangen, dass der Hund gar nicht bei ihm war.
„Ich hab jemanden mitgebracht", lachte die Frau.
„Oh je, Alpha, tut mir leid, ich hab dich vergessen", murmelte Milanentschuldigend.
Milans Mutter setzte sich aufs Bett und er spürte, wie die Matratze unter ihremGewicht ein wenig einsank.
„Willst du reden?", fragte sie leise, vorsichtig, besorgt.
„Worüber?", erwiderte er abweisend. In ihm machte sich schlechte Laune breit.
„Darüber, dass du telefonieren wolltest"
„Warum willst du denn darüber reden?"
„Das hast du noch nie gemacht.", erklärte sie.
„Ja. Und? Es gibt immer ein erstes Mal.", murmelte er trotzig und fühlte sichschlecht, es war unfair von ihm, sich so zu verhalten.
„Ich...ja...Aber...keine Ahnung, ich hab mir halt irgendwie Sorgen gemacht. Vorallem, weil Leyla..."
„Was soll mit Leyla sein?", unterbrach er sie scharf. Irgendwas an der Art, wiesie den Namen des Mädchens ausgesprochen hatte, passte ihm nicht, ließ ihnunruhig werden.
„Nichts, es ist alles okay. Ich hab nur Angst, dass du...Gefühle für sieentwickelst und sie nicht das gleiche empfindet. Ich will nicht, dass dir dasHerz gebrochen wird, verstehst du?", klärte sie ihn auf.
„Hm", brummte er. „Sei mir nicht böse, aber mir wurde schon viel früher dasHerz gebrochen und das weißt du auch"
„Ich...ja...ich weiß, aber...", versuchte seine Mutter, sich herauszuwinden.
„Kein Aber. Mein Vater hat mir das Herz gebrochen, du hast mir das Herzgebrochen, Simon hat mir das Herz gebrochen, oh, und meine Blindheit bricht mirjedes Tag aufs Neue das Herz! Auf das eine Mal mehr oder weniger kommt es jetztdoch auch nicht mehr an!", fuhr er sie an und schämte sich dafür, noch währender redete. Aber jetzt ließ es sich nicht mehr rückgängig machen. Dem Schweigennach zufolge schien seine Mutter nicht so recht zu wissen, was sie noch sagensollte, weshalb Milan schließlich fortfuhr: „Ach so und übrigens, Leyla tut mirgut. Ich habe endlich jemanden, mit dem ich gerne Zeit verbringe und der nichtzu meiner Familie gehört. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich jemanden, denich als Freundin bezeichnen würde. Und, nur mal so nebenbei, durch sie habe ichAlpha bekommen und Alpha tut mir erst recht gut."
Er erhielt immer noch keine Antwort und er hoffte, dass sie darüber nachdenkenwürde, was er gesagt hatte.
„Okay", sagte sie schließlich leise, „können wir dann über die Ka..."
„Nein", schnitt er kalt das Wort ab.
„Gut", murmelte seine Mutter und an der Bewegung der Matratze merkte er, dasssie aufgestanden war. „Ich geh dann mal. Falls du doch noch reden willst, duweißt, wo du mich findest."
„Ehrlich gesagt weiß ich das nicht so genau, aber ich werde einfach demKippengestank folgen."
Das war hart gewesen, zu hart, das wusste er. Aber er war zu wütend, um sichjetzt darüber Gedanken zu machen. Es ärgerte ihn immer noch, dass seine Mutterein Problem damit zu haben schien, dass er so viel Zeit mit Leyla verbrachte.Milan fragte sich, woher der plötzliche Wandel kam. Vor kurzem noch war siehellauf begeistert gewesen, hatte sogar gedacht, sie sei seine feste Freundin.
Frustriert drückte er sein Gesicht ins Kissen und schrie wütend hinein. Erneutsenkte sich die Matratze, wenn auch nur ein bisschen und Alpha kletterte aufseinem Herrchen herum.
„Ich fass es nicht, Alpha. Wie kann sie nur?", stieß er hervor und tastetebehutsam nach dem Kopf des Hundes, um ihn hinter den Ohren zu kraulen, in derHoffnung, es würde ihn beruhigen.    

FarbenblindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt