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Die kalte Januarsonne schien durchs Fenster und Leyla schloss die Augen. Sie saß im Erker, ihrer kleinen, schützenden Höhle und dachte nach. Die Traurigkeit in Milans Stimme vom Vortag ließ ihr einfach keine Ruhe. Was war geschehen? Hatte Simon seine Finger im Spiel gehabt? Sie hoffte, dass es nicht so war, denn ihrer Meinung nach hatte Milans Bruder schon mehr als genug Ärger angerichtet. Je öfter sie auf Simon traf, desto weniger konnte sie ihn leiden. Wenn sie genauer drüber nachdachte, schien es so unglaublich, dass die beiden Brüder waren. Simon war so von Wut und Hass zerfressen und Milan war so erfüllt, von Liebe und Vertrauen, dass es fast weh tat. Leyla fragte sich, wie er das nur aushielt, wünschte sich aber gleichzeitig, ein bisschen mehr wie er zu sein. Es erschien ihr unvorstellbar, dass Milan auch nur etwas ernsthaft Böses denken konnte, wohingegen sie ihrer...Außergewöhnlichkeit gegenüber doch manchmal so ignorant war. Wie viele sich wohl wünschten, wie sie zu sein? Sie wollte es gar nicht wissen, sie hatte lediglich Mitleid mit diesen Leuten, die gar nicht wissen zu schienen, wie anstrengend es sein konnte, bei jeder Musik Farben zu sehen – und bei ihr war es ja auch noch weniger ausgeprägt als bei anderen. In Gedanken entschuldigte sie sich bei allen anderen Synästhetikern auf der Welt, teilte ihr Leid. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie überhaupt darunter litten. Vielleicht mochten sie es ja? Vielleicht hatte sie es akzeptiert? Nur, weil sie selbst damit nicht klarkam, es immer, wenn es möglich war, verdrängte, hieß das ja nicht, dass es allen so gehen musste. Irgendwie machte der Gedanke sie wütend, dass sie so verallgemeinernd dachte, mit Menschen – und dann auch noch fremden – Mitleid hatte, die es vielleicht nicht brauchten und erst recht nicht wollten. Leyla hatte das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein. Sie seufzte und öffnete ihre Augen wieder. Gedankenverloren ließ sie ihren Blick durchs Zimmer schweifen und blieb schließlich an der Spieluhr hängen. Ihr kam das wie ein Déjà-Vu vor und sie glaubte, diesen Moment vor kurzem noch geträumt zu haben.
Wie in Trance stand sie auf und bewegte sich auf die kleine blaue Box zu. Als sie sie in die Hand nahm, fiel ihr eine Aufschrift auf dem Deckel auf, die so transparent war, dass man sie nur bemerkte, wenn man sich die Spieluhr genauer ansah. Life is short – Dance stand darauf geschrieben. Das fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Schnell ließ sie die kleine Box fallen, fast so, als wäre sie vergiftet. Leyla atmete tief durch, kämpfte mit den Tränen, wusste aber nicht genau, ob sie von dem Schmerz, der ihren Körper durchfuhr, oder von der Wut, die sie packte, herrührten. Ein Teil von ihr hoffte, dass die Wut die Ursache war, denn dann hatte sie jemanden, dem sie die Schuld geben – Milan. Aber ein anderer Teil hoffte, dass es Tränen des Schmerzes waren, denn eigentlich wollte sie nicht wütend auf den Nachbarsjungen sein. Ihre Gedanken rasten. Sie musste sich bewegen, rennen, laufen. Doch ehe sie sich versah, realisierte sie, dass sie tanzte. Sie tanzte, ohne etwas dagegen tun zu können. Und ebenso wenig konnte sie etwas gegen die Tränen tun, die ihr Gesicht entlangströmten.     

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