Noch immer stand Milan im Park und versuchte zu begreifen, was passiert war. War das ein Streit gewesen? Oder lediglich ein Missverständnis? Er war wütend auf sich selbst. Wütend, dass er Leyla nicht die Chance gegeben hatte, die Sache zu erklären. Wütend, dass er einfach etwas angenommen hatte, schlichtweg aus dem Grund, dass es naheliegend war – plötzlich dämmerte ihm, dass er sich in diesem Punkt kein Stück von seinem Bruder unterschied. Auch Simon war einfach davon ausgegangen, dass ihr Vater die beiden verlassen hatte, weil Milan blind war und damit war die Sache für ihn „geklärt". Die Blindheit war schuld, alles andere war ihm in diesem Moment abwegig erschienen. Und Milan ging es gerade nicht anders. Alles in ihm krümmte sich zusammen, als ihm klar wurde, dass er wie Simon war. Simon, der blind vor Wut gewesen war. Für einen Moment kämpfte er gegen den Drang an, laut loszulachen, einfach, weil ihm es viel zu absurd erschien, dass jemand, der einwandfrei sehen konnte, sprichwörtlich blind werden konnte – aus einer einfachen Emotion heraus. Es war verrückt, dass Simon – sprichwörtlich – blind werden konnte, weil er wütend war, während Milan wütend wurde, weil er blind war, wortwörtlich.
„War Simon wieder da?"
Milans Stimme war angespannt, als er die Frage stellte. Er hatte die Tür nicht einmal komplett geschlossen, als ihn der schwere, stechende, mit Nikotin geschwängerte Zigarettenrauch entgegenschlug, ihn einhüllte und sich durch seine Nase hindurch in sein Herz schlängelte, um dort jede noch so kleine emotionale Regung, die er beim Gedanken an Simon verspürte, heraus zu kitzeln, mit seinen Krallen nach ihnen zu schlagen und gewaltsam aus Milans Herz bis hoch in seinen Mund zu zerren – Milan wollte einfach nur noch schreien. Er wollte schreien, weil er so wütend und verzweifelt war, sich so hilflos fühlte und das Gefühl hatte, etwas hinter her zu jagen, das er nie hatte, das er nie haben würde. Er war hungrig, aber kein Essen der Welt würde seinen Hunger nach Gerechtigkeit und nach Farben, die er wirklich und wahrhaftig mit eigenen Augen betrachten konnte, stillen. Niemand würde ihm das abnehmen und „Es ist okay, es ist vorbei" sagen können. Niemand, nicht einmal Leyla, die es doch so sehr versuchte. Versucht hatte. Er wusste nicht, ob sie je wieder mit ihm reden würde.
„Nein", hörte er die Stimme seiner Mutter.
„Was? Wird sie nicht?", entgegnete er schockiert und noch während die Worte von seiner Zunge herunterrollen und Purzelbäume in der Luft vor ihm schlugen, begriff er, dass seine Mutter nicht von Leyla geredet hatte, sondern ihm gesagt hatte, dass Simon nicht da gewesen war.
„Ach so", meinte er dann, „aber warum...?"
Er beendete den Satz nicht, denn er begriff, warum das ganze Haus vollgequalmt war. Seine Mutter hatte einen Rückfall. Das letzte Mal, dass sie zu den mit Nervengift gespickten Tabakstangen gegriffen hatte, war schon lange her, damals, als Simon und Milan sich so heftig gestritten hatten. Und das mal davor war, als Milans Vater beschlossen hatte, die Familie im Stich zu lassen. Sie hatte immer dann Rückfälle gehabt, wenn die Familie ein Stück weiter zerbrochen war. Der Gedanke machte ihn nervös, saugte ihm die Luft aus jeder einzelnen Pore – er war ein einziges, wandelndes Vakuum, leergesaugt von Luft und Emotionen. Das Einzige, das noch übrig war, war sein Herz, das einfach nur schlug, pochte, pumpte und lediglich seine Funktion erfüllte. Denn Gefühle existierte nicht mehr. „Mama...was...", seine Stimme kippte, zitterte und versagte schließlich. Er wollte wissen, was los war. Er wollte nicht wissen, was los war. Er wusste nicht, was er wissen oder nicht wissen wollte. In Milan stieg der Drang auf, sich einfach nur in sein Bett zu legen und sich unter seiner Decke zu verstecken, wie ein kleines Kind. Und so kam er sich auch vor. Er war keine 19 mehr. Er war wieder 13, fühlte sich an den Zeitpunkt zurückversetzt, an dem Simon die Geburtstagskarte seines Vaters geöffnet hatte und feststellen musste, dass darin „Alles Gute zum 17. Geburtstag" stand - anstelle des 18. Der Moment, in dem Simon ausflippte, Milan anschrie, dass alles seine Schuld war. Und dann der Moment, ein paar Stunden später, in dem seine Mutter rauchend auf dem Sofa saß, während ihr vereinzelt Salzwasserperlen, die ihre Augen leicht rot färbten, aus den Tränendrüsen über die Wangen rollten. Zumindest vermutete Milan, dass sie damals geweint hatte, gesehen hatte er es ja nicht. Er hatte nur noch den brennenden, stechenden Geruch der Zigaretten in der Nase. Auf einen Flashback folgte der nächste, es war wie eine Endlosschleife. Er bekam Kopfschmerzen. Nachdem er die Augen geschlossen hatte, atmete er einmal tief durch und öffnete sie wieder. In der ersten Sekunde dachte er, dass sich nichts geändert hatte. Doch dann umspülten ihn sämtliche Emotionen, gemischt mit jeder noch so kleinen Brise Luft, die sich zu einem Sturm verwirbelten, die zuvor aus ihm herausgesaugt wurden. Es war, als wäre er in einem stillen Ozean gestanden und urplötzlich entstand eine Welle, so groß und heftig, dass er unter ihr begraben wurde und zu ertrinken drohte.
„Milan. Alles okay?" Die Stimme seiner Mutter drang an sein Ohr, gedämpft, wie durch eine Wand. Erst jetzt begriff er, dass er immer noch im Flur stand und seit seinem angefangenen Satz keinen Ton mehr von sich gegeben hatte.
„Ja. Und bei dir?", erwiderte er.
„Ja. Klar, bei mir ist alles gut, mein Schatz"
Milan glaubte ihr kein Wort, aber er biss sich auf die Unterlippe, um nichts zu sagen, was einen Streit auslösen könnte.Stunden später war das Gefühl des Ertrinkens inEmotionen noch immer präsent und Milan hatte den Eindruck, dass es immerschlimmer wurde. Er dachte an Alpha und war sich sicher, dass der Hund diesesGefühl mildern, wenn nicht sogar stoppen konnte. Doch wie sollte er an Alphaherankommen, wenn Leyla nicht mit ihm redete – oder redete er nicht mehr mitihr? Allerdings konnte er ja gar nicht wissen, ob sie noch miteinander redetenoder nicht, der Streit – oder was auch immer genau das gewesen war – war jagerade mal ein paar Stunden her. Aus irgendeinem Grund breitete sich Erleichterungin ihm aus, als er das realisierte. Es war erst ein paar Stunden her. KeineTage, auch, wenn es sich so anfühlte. Er machte sich völlig überflüssigGedanken über ein Problem, das sich vielleicht sogar schon morgen in Luftauflösen würde. Je länger er die Situation so betrachtete, destowahrscheinlicher erschien es ihm, dass sich der Konflikt klären würde. Und jelänger er darüber nachdachte, desto mehr merkte er, dass er Leyla brauchte –wer sonst sollte ihm Farben erklären können und das nur anhand von Musik? Unddavon abgesehen mochte er Leyla, so, wie sie war, ungeachtet ihrer besonderenBegabung. Das war für ihn schlichtweg ein Pluspunkt. Seufzend drehte Milan sichvon einer Seite auf die andere und kuschelte sich ein bisschen tiefer in die Decke.Er vermisste das Nachbarsmädchen.
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Farbenblind
Teen Fiction»„Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. „Weiß", erwiderte sie. „Und weiß ist...kalt?", fragte er zögernd. „Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass...