Kapitel 26 - Scherbe

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Ich wartete noch mein bescheidenes Abendessen ab, welches sich ungewöhnlich klebrig und kalt in meinem Mund anfühlte und ging dann schweigend schlafen. Alles war auf einmal kalt, was zuvor noch warm gewesen war, ich schauderte und fror wie ein nacktes Neugeborenes. Und was ich vorher noch herbeigesehnt hatte, war plötzlich genauso schlimm wie das andere. Draußen warf sich neuer, dunkler Regen urteilend an die Mauern und Fenster des Krankenhauses, sodass ich es die ganze Nacht lang über hörte. Zusammen mit den klagenden Rufen anderer Patienten bildete es eine Geräuschkulisse, die mir nie in dem Maße wahrgenommen hatte. Und alles drehte sich um die Frage meiner eigenen Schuld...

Der nächste Tag versprach mehr Regen. Es wollte nicht aufhören, wurde sogar noch schlimmer, als würde der Himmel den Verlust meines Verstandes beweinen. Meine Beine oder was davon übrig war tat weh und obwohl mich auf diese Nacht wieder die Dämonen gequält hatten, war es das einzige, was noch spürbar von der Nacht blieb. Es war nicht der schlimmste Schmerz, den ich jemals hatte und das komische, viel zu reale Brennen auf meiner restlichen Haut blieb komplett aus. Ein Fortschritt? Konnte es möglich sein? Aber nein, all das ließ sich mit einer neuen Komponente in meinen Albträumen erklären, einem schrecklich kalten Gefühl das mich erst umfasste und dann ganz lähmte. Es war Seb. Seb der durch mich verletzt und schließlich getötet wurde. Weil ich egoistisch war, mich Befehlen widersetzte, desertierte... weil ich dachte. Aber als Soldat wurde ich nicht fürs Denken bezahlt. Ich war also ein echter Dummkopf. Zu denken... zu entscheiden... etwas zu finden... Schuldgefühle durchzogen mich. Alles war meine Schuld. Das das passiert war, dass wir uns in genau diesem Busch verstecken mussten, dass Seb tot war. Alles...

Mit Tränen in den Augen setzte ich mich auf. Ich konnte es jetzt eh nicht mehr gut machen. Die Last würde ewig auf meinen Schultern lasten. Also lohnten sich auch die Tränen nicht. Ich wischte sie mir lieblos weg und zog zitterig den Rollstuhl zu mir heran, um mich hinein zu heben. Meine Arme bebten dabei so sehr, dass ich kurz fürchtete weg zu knicken. Schwach... Krüppel... Nichtsnutz... Neue Tränen stiegen in mir auf, doch um sie aufzuhalten biss ich mir so fest auf die Lippe, dass ich Blut schmeckte. Es bedeckte warm und metallisch meine Zunge und ich.... ich musste sogar leicht lächeln. Nichts aus Freude. Ich hatte diesen Schmerz verdient. Aber jetzt musste ich mein verzweifeltes Gesicht loswerden. Meine Maske wieder aufsetzen, die garantierte, dass es mir langsam besser ging. Damit ich endlich aus diesem Albtraum entlassen wurde in dem sich scheinbar alles im Kreis drehte.

Ich wollte gerade auf das noch viel kleineren Bad als in dem anderen Zimmer, das ich mit Luke hatte zuhalten, um mich meines schrecklichen Äußeren zu besehen, da sah ich es schimmern. Nur ganz kurz in dem trüben Licht blitzte es auf, wie der grau-weiße Himmel selbst. Verwundert blieb ich stehen, neigte den Kopf zurück, ob es vielleicht nur eine Täuschung gewesen war, doch da war es wieder. Es blinkte und glänzte, so oft ich den Kopf neigte. Langsam beugte ich mich herab, beugte mich tief und streckte meine Hand unter das Bett, diesem Ding entgegen was da so blitzte. Es war erstaunlich wenig Staub dort, der sich an meiner Hand festklammerte, als ich es endlich zu fassen bekam. Das Ding war glatt und scharf. Ich fiel fast aus dem Rollstuhl, als ich versuchte mich wieder gerade aufzusetzen, so weit hatte ich mich verrenkt. Doch schließlich hatte ich es in der Hand. Es bedeckte nur einen Teil meiner Handfläche, war scharfkantig und spitz abgebrochen. Eine Scherbe. Wahrscheinlich von einem Wasserglas, das hier vor einiger Zeit zu Bruch gegangen war. Nichts besonderes eigentlich. Nur wunderswert, dass das Personal sie noch nicht beseitigt hatte.

Ich schaute sie mir vorsichtig von allem Seiten an, ehe ich meine Hand fest um sie herum schloss. Sie schnitt mir sofort ins Fleisch und hinterließ ein scharfes Brennen, doch ich öffnete meine Hand nicht, sondern drückte nur noch fester zu. Es hatte etwas faszinierend mein eigenes Blut zu sehen. Es hatte etwas beruhigendes. So beruhigend, dass ich den Schmerz fast komplett ausblendete. Mein Blut machte ein Muster auf dem eben noch durchsichtigen Glas und tropfte charmensinrot auf meinen Schlafanzug. Ich würde später sagen müssen ich hätte Nasenbluten gehabt. Aber für jetzt war es gut... Kurz genehmigte ich mir sogar den Kopf zurückzulehnen und die Augen zu schließen.

Doch der Moment weilte nur kurz. Ruckartig öffnete ich die Hand, die noch immer stark blutete und rollte ins Bad. Ich warft die Scherbe ins Waschbecken und drehte den Hahn voll auf, um den Strahl über meine verletzte Hand zu halten. Es tat weh. Viel mehr noch, als ich mir die Verletzung zugefügt hatte. Das Wasser färbte sich hellrot unter meiner Hand, nachdem er sich mit dem Blut gemischt hatte. Und langsam hob ich den Kopf zum Spiegel. Leichte Bartstoppeln, dunkle Schatten unter den Augen... alles wie jeden Morgen. Bis auf das Lächeln. Nein... ich lachte. Stumm, erstickt. Ja wahrlich, jetzt konnte ich es auch sehen, ich war verrückt. Total zerstört, nicht mehr zu retten. Und ich lachte und lachte. Voll Verzweiflung, voll Selbsthass.

Ich stellte das Wasser aus und mein stummes Lachen verklang im Nichts, wurde erst zu einem unehrlichen Lächeln, zitterte, wurde kleiner und verschwand dann gänzlich aus meinem Gesicht. Und vor mir sah dieser kranke, zerbrochene Mann, der ich war. Wirres, stumpfes Haar, spröde, aufgebissene Lippen, leere Augen. Ich wollte diesen Mann nicht sehen. Und als ich die Augen schloss sah ich auch jemand ganz anderes vor mir. Hübsch war sie. Dunkles Haar und grüne Augen, die mir so lebenslustig entgegen blickten. Anne... Ihr Name tanzte durch meine Gedanken, schön und wohlkingend wie ein Lied. Anne... Kurz noch tanzte ihr Name vor meinen Augen, umschmeichelte meine Seele und versprach eine Ruhe, wie ich sie nie mehr erlangen konnte, als sich Anne vor meinem inneren Auge von mir abwandte. Meine Schuld... nur meine Schuld...

Ich wollte schreien. Doch als ich die Augen wieder öffnete verließ mich kein Ton. Ich konnte nicht mehr denken, ich konnte einfach nicht mehr. Und wieder sah ich mein Spiegelbild an. Eine Leiche sah zurück. "Es tut mir leid...", hauchte ich fast unhörbar. Ob es an mich selbst, an Anne oder Seb gerichtet war konnte ich nicht sagen. Die Wahrheit lang zwischen allen Möglichkeiten. Und es tat gut sich zu entschuldigen. Für wen und was auch immer.

Mein Blick huschte zurück auf die Scherbe, gerade als an die Zimmertür geklopft wurde, und Trudy ins Zimmer trat. Rasch nahm ich die Scherbe und versteckte sie in einer kleinen Ecke hinter dem Waschbecken, in das ich zuvor Wertsachen gelegt hatte. Da kam Trudy schon herein gepoltert und ich setzte ein Lächeln auf. Tot. "Oh, wie ich sehe sind Sie schon dabei sich zu duschen. Brauchen Sie dabei Hilfe?", fragte sie und lächelte gutmütig. Ihre Naivität erschreckte mich. "Nein, ich kann mich allein fertig machen, danke." Sie nickte bestätigend. "Dann warte ich draußen, decke schnell das Frühstück auf und Sie schreien, wenn Sie hilfe brauchen.", meinte sie und verschwand wackelnd aus dem Bad. Die Tür schloss sie diesmal leise, als wollte sie mich nicht verschrecken. Ich starrte die Tür noch einen Moment an, dann streifte ich Hemd und Hose ab und setzte mich auf den Duschstuhl der da für mich bereit stand. "Anne...", flüsterte ich leise vor mich hin. Dann stellte ich das Wasser auf eisig kalt.

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