Kapitel 6 - Psychologe

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Zwei ältere Krankenschwestern waren wenig später ins Zimmer gekommen und hatten mich in den Rollstuhl gehievt. Tatenlos ließ ich es geschehen und wurde aus dem Zimmer geschoben. Anne sah ich nicht mehr, was auch immer sie den anderen Schwestern gesagt hatte. Ob ich widerspenstig handelte, mich wehrte oder sie schlicht nicht die Kraft hatte mich allein in den Rollstuhl zu bringen? Was es auch war, die anderen beiden, von denen ich eine vom sehen her kannte, schoben mich nun mit eiserner Bestimmtheit voran.

Auf dem Flur hingen keine Bilder, es gab keine Fenster, nur ein langer weißer Flur mit Türen auf denen schwarze Nummern standen. Der geflieste Boden war sauber, glänzte klinisch und jeder Schritt der Schwestern hinter mir quietschte demonstrativ in der stickigen Ruhe diesen Flures.

Ich musste an das denken was Luke eben gesagt hatte. Ob Anne mich wirklich mochte oder immerhin eine leichte Sympathie empfand? Oder war das nur Mitleid? Mitleid mit einem armen Krüppel wie mir der seine Zukunft verloren hatte. Und selbst wenn da noch ein Hauch mehr war als Mitleid, was man irgendwie mit Zuneigung in Verbindung bringen konnte, sie war zu jung. Viel zu jung. Wie alt mochte sie sein? Sechszehn, vielleicht siebzehn, aber definitiv nicht älter. Sie war ja noch ein Kind, sie sollte nicht jemanden wie mich... mögen. Aber wie schon gesagt, Luke behauptete allwissend zu sein, Frauen anhand eines Blickes zu entschlüsseln, demnach musste es gar nichts bedeuten. Und ich? Wie stand ich Anne gegenüber?

Ich dachte darüber nach als ich in den Aufzug am Ende des Ganges geschoben wurde. Das Büro lag auf Etage 4, ein unnötiges Detail, das mir auffiel als die Schwester zu meiner rechten den Knopf drückte. Anne... ich wusste nicht was ich fühlte, im Grunde war sie mir egal, wie alles mir im Moment egal war, das Leben hatte mir eine Kinnharken verpasst. Alles war irgendwie belanglos und unnötig. Auch Anne war das. Sie war hübsch, hatte ein niedliches Gesicht und schien freundlich zu sein, aber ich war es nicht. Sie tat gut daran mich wieder zu vergessen. Wenn ich hier raus war, hatte ihre Zuneigung ein Ende. Nach nur einer Woche würde sie nicht mal mehr meinen Namen kennen. Außerdem war sie zu jung für mich. Ich brauchte eine Frau, kein kleines Mädchen... aber eigentlich brauchte ich ja gar nichts mehr. Wie dumm und naiv mir also überhaupt erst Gedanken darüber zu machen. Das beste wäre gar nicht zu denken, es machte ja eh keinen Sinn mehr. Da war ja so oder so nichts mehr nach diesem Krankenhaus. Meine Familie würde mich bis in alle Ewigkeit pflegen müssen, ich bekam zwar eine Abfindung, aber das änderte nichts daran das ich meinem Bruder nach dem Tod unserer Eltern mächtig auf die Tasche gehen würde. Ich würde verstehen wenn er mich in ein Pflegeheim abschöbe, vielleicht würde es das für uns beide leichter machen. Und dann? Wie sollte es enden? Diese glorreiche Geschichte würde in einem Krankenbett wie diesem enden, irgendwo in einem schäbigen Pflegeheim in Boston, wo mir nach langen Jahrzehnten der Aufbewahrung endlich ein einfacher Herzinfarkt das Licht auspusten würde... So sah es aus. Realistisch genug für meinen Geschmack, dass ich verbittert den Mund verzog und wie in einer Art Trance vor mich hinstarrte.

Die Fahrstuhltür öffnete sich lautlos, nachdem eine metallene Stimme Stockwerk 4 angekündigt hatte. Die Schwestern schoben mich hinaus. Wieder ein schmuckloser Flur. Ich schaute weiter ins nichts, ohne etwas von meiner Umgebung zu sehen.

Viel zu schnell kamen wir bei einer Tür an auf der geschrieben stand; Klinischer Psychologe Dr. Josef Black. Ich senkte den Kopf, als eine der Schwestern klopfte, ehe sie die Tür öffnete und den Blick auf ein kleines Büro preisgab, dessen Einrichtung aus einem sehr alten, klobigen Schreibtisch, einem abgelaufenen grünen Teppich darunter und vielen verschiedenen Zimmerpflanzen bestand die den Raum ausfüllten und nur das kleine Fenster freiließen. „Doktor Black, Ihr Patient ist eingetroffen.", sagte die gleiche Schwester neben mir und etwas regte sich in dem Schreibtischstuhl hinter dem Tisch. Der war mir in dem ganzen Grünen gar nicht aufgefallen. Vor einer Wand aus Bücherregalen stand ein wenig prunkvoller Schreibtischstuhl, der sich quietschend zu uns umdrehte. Die zweite Schwester schob mich auf die andere Seite des Tisches, während ich den noch ziemlich jung aussehenden Mann mir gegenüber betrachtete. Ordentlich frisiertes blondes Haar, einen offenen, weißen Kittel unter dem er ein Hemd mit Krawatte trug. Die Brille auf seiner Nase trug zu seinem offiziellen Aussehen bei. „Herzlich Willkommen, Mister McConnell.", sagte er freundlich und streckte mir seine Hand begrüßend entgegen. Ich ergriff sie, um Normalität bemüht und nickte um den Gruß zu erwidern. Bloß nicht komisch auffallen, sowas wie vor einigen Tagen wollte ich nicht nochmal erleben. Obwohl ich nicht an Klaustrophobie litt, war mir das Gefühl des gefesselt seins eine Erinnerung mit Schrecken. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht.

„Hat der Herr irgendwelche Medikamente bekommen?", fragte Black an die Schwestern gerichtet, die mich begleiteten. „Er bekommt noch immer 500 mg Acetylsalicylsäure, morgens nach dem Essen und Abends vor dem Essen.", kam es wie aus der Pistole geschossen. Ich erinnerte mich an die weiße Tablette, die mir jeden Tag gereicht wurde. Schmerzmittel, wie ich bereits gefragt hatte. Im Handel bekannt, ich war also schon vom Opium runter.

Die Schwestern verließen auf ein Nicken Blacks hin das Zimmer und ließen mich mit dem Psychologen allein. Ich schluckte krampfhaft. Für einige Momente war der Ventilator an der Decke und dir Uhr auf dem Schreibtisch das einzige was in der Stille klang. Bloß nicht komisch auffallen, dachte ich immer wieder und versuchte dem forschenden, ruhigen Blick von Dr. Black standzuhalten. Ich wollte nicht noch einmal ans Bett gefesselt werden oder schlimmer noch, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden, nachdem ich hier raus war. Die Anspannung war daher praktisch sichtbar und schien wie elektrisch im ganzen Raum zu pulsieren.

„Kann ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?", fragte Black nach einer Weile. Ich nickte und fügte noch hastig einen Dank hinzu. Wenn das hier alles eine Prüfung von ihm war, wollte ich wenigstens so normal wie möglich darin erscheinen. Er stand auf, nahm eine Wasserflasche und ein schmuckes Glas von einer bronzenen Anrichte zwischen den Pflanzen - anscheinend gab es hier doch ein paar mehr Möbel - und goss dieses geräuschvoll ein, ehe er zurückkehrte und es mir hinstellen. Ich griff danach und trank einen gierigen Schluck, dann einen zweiten. „Sie brauchen nicht nervös zu sein, Mister McConnell. Ich werde Ihnen lediglich ein paar Fragen stellen, wir reden ein bisschen und dann können Sie sich wieder ausruhen.", sagte Black im lockeren Plauderton mit seiner leicht nasalen Stimme. Verdammt, er hatte bemerkt wie angespannt ich war.

„Gibt es irgendwelche physischen oder psychischen Vorerkrankungen?", fragte Black nun sachlich während er mit einer sehr gepflegten, feingliedrigen Hand nach einem Füller griff und etwas auf einen Zettel schrieb. „Nein", antwortete ich laut und ein tick zu schnell. Black schaute nicht auf. „Waren Sie schonmal im Krankenhaus?", fragte er weiter. Ich versuchte mich möglichst entspannt zurücklehnen. „Als ich elf war hatte ich mal eine gebrochene Nase." Ich wusste das ich damals schon das Krankenhaus von Boston so schnell wie möglich verlassen wollte. „Wie ist das passiert?", fragte Black. Ich schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Fragte er mich gerade allen ernstes etwas was vor mehr als zehn Jahren geschehen ist? „Ich ähm... bin mit ein paar anderen Jungs in eine Rauferei geraten.", antwortete ich zögerlich. Black nickte und schrieb weiter. „Wie kam es zu der Rauferei?", fragte Black. Ich stutzte. „Wir waren Kinder, es ging um nichts wichtiges-" „Wie kam es dazu?", fuhr Black dazwischen. Er war noch immer unangenehm ruhig. Ich zog meine Augenbrauen noch höher und räusperte mich. Wenn ich ehrlich war wusste ich das selbst nicht mehr so genau. „Ich glaube einer hat angefangen ihn wegen dessen Herkunft zu beleidigen. Daraufhin sind die beiden aufeinander losgegangen und wir anderen wollten sie glaube ich aufhalten... Das ist eine Ewigkeit her, warum-" „Und auf welcher Seite waren Sie? Auf der desjenigen der beleidigt hat, oder desjenigen der beleidigt wurde?", unterbrach mich Black wieder. Ich versuchte meine Verwirrung nun nicht mehr zu verbergen. „Das weiß ich nicht mehr.", gab ich wahrheitsgemäß zu und beobachtete Black wie er nun aufschaute. Ich konnte nicht in seinem Blick lesen. „Wie lange waren Sie damals im Krankenhaus?" „Einen Tag, höchstens, ich kann mich nicht erinnern über Nacht geblieben zu sein." „Ist Ihnen damals irgendwas unheimlich gewesen? Irgendwas, was Sie mit dem Krankenhaus verbinden?" „Nein"Es waren Frage und Antwort, das eine so emotionslos wie das andere. Ich versuchte so sachlich und normal zu antworten wie möglich und wandte den Blick nicht ab.

Black machte einen Punkt auf seinem Zettel und lächelte erschreckend herzlich. „Na schön, dann wollen wir uns mal dem Hauptproblem nähern."

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