Es war besser so. Seit knapp zwei Jahren sagte Anne das wie ein Mantra zu sich, damit sich nicht in Versuchung kam diese Situation auf seie Richtigkeit zu hinterfragen. Und sie sagte es sich auch diesmal, als sie das Bier für ihren Stiefvater geräuschvoll aufploppen ließ, dass er bei "bestellt" hatte. Er schaute sich gerade ein Footballspiel an, eine Wiederholung der letzten Saison und die Geräusche des Fernsehers erfüllten das kaum nennenswerte Wohnzimmer mit einer angrenzenden, sehr kleinen Küche. Seine Halbglatze schaute hinter dem Sofa auf, sodass Anne sie von hier aus sehen konnte. Immer mal wieder war der Raum von einem durchdringenden Grunzen erfüllt, wenn er gerade mal wieder die Sitzposition wechselte.
„Wo bleibt denn das Bier?", fragte er mit lauter Stimme nach hinten. Anne presste die Lippen für einige Sekunden aufeinander, hielt die Luft an und ließ sie dann, nachdem sie stumm bis fünf gezählt hatte zischend entweichen. Sie drehte sich vom Thresen weg und brachte ihm die Flasche ans Sofa. „Hier", sagte Anne möglich wertungsfrei und sah aus den Augenwinkel Julie die Treppe runter kommen. Er nickte knapp und setzte es sich an die Lippen. Ein kleiner, dicklicher Mann, dessen Augen müde am Bildschirm klebten. Anne konnte nicht nachvollziehen, was ihre Mutter an diesem Mann fand. Papa hatte besser ausgesehen. Groß, schlank, mit Hut und polierten Schuhen. Seine Locken hatte er kaum bändigen können, deshalb waren sie ihm erst braun, später ergrauend in die faltige Stirn gefallen. Anne hatte ihn geliebt, aber eines Tages war alles anders. Der Tag, an dem sie ihn betrunken in der Küche vorgefunden hatte. Offenes, vollgekotztes Hemd, die Hose zu seinen Füßen und eine fremde Frau die zwischen seinen Beinen hing, ebenfalls sturzbetrunken. Ma hatte es wenig später herausgefunden, aber da war es schon zu spät. Anne Vater hatte seinen Koffer gepackt und war mit seinem Auto und einer viel zu jungen Frau einfach davon gefahren. Einfach so, ohne ein letztes Wort zu Anne und ihre Schwester. Er war einfach gegangen...
Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge ging Anne zurück in die Küche. „Wo kommst du her?", fragte Anne vorwurfsvoll und betrachtete die beinahe gleichgroße Person einen Moment. Zerzaustes Haar, Schlafanzug und einen miesgelaunten Blick. Julie zuckte kurz mit den Schultern und fing an, sich eine Schüssel Cornflakes zu machen. „Musst du nicht zur Schule?", fragte Anne weiter. Julie schaute sie nicht an, sondern fischte mit der Hand nach der Milch im Kühlschrank. „Musst du nicht zur Arbeit?", kam es flapsig zurück. Das traf. Nichts in der Welt hätte Anne lieber getan, als jetzt auch nur für ein paar Stunden zur Arbeit zu gehen, um einfach mal raus zu kommen. Zumal die Familie das zusätzliche Geld gut gebrauchen konnten, es reichte so gerade für das Nötigste. All die lieben Kollegen, die sich jetzt bestimmt schon Sorgen machten. Als Grund hatte sie schließlich nur ‚Familiäre Probleme' angegeben. Allein der Gedanke, was die anderen jetzt wohl denken möchten und was sie alles fragen würden, wenn sie wieder kam verursachte ihr Bauchschmerzen. Und wenn sie jetzt die Ausbildung abbrach? Dann wäre das das einzige gewesen, was sie mal wirklich für sich allein gehabt hatte, fernab von ihrer Familie. Eine zweite Ausbildung würde es nicht geben, höchstens einen Minijob, wenn Henry, der neue Mann ihrer Mutter bemerkte, dass sein Verkauf von selbst gemachten T-shirts nicht so gut lief, wie er vielleicht dachte.
„Schule ist wichtig. Damit du mal dein eigenes Geld verdienst und...", Anne senkte die Stimme zu einem flüstern. „...so schnell wie möglich hier weg kannst." Julie schenkte ihr einen vielsagenden Blick und begann dann ihre Corneflakes zu löffeln. Anne schnaubte leise und beobachtete sie noch ein paar Minuten. Sie war eigentlich nur drei Jahre jünger, aber Anne kam es manchmal vor, als wären es zehn. Julie benahm sich so unbedarft und... ja, manchmal auch dumm, dass es Anne die Sprache verschlug. Dabei zweifelte sie nicht daran, dass Julie bemerkte, wie schlimm es hier war. Wenn Henry mal wieder zu viel trank, wenn er böse wurde wegen etwas so banalem wie das Wetter und er deshalb nicht angeln gehen konnte. Er ließ seine Wut natürlich an Anne aus, hauptsächlich, weil sie wollte, dass niemand sonst mit hineingezogen wurde. Schon gar nicht Julie. Für Mutter, die endlich wieder etwas gesünder aussah. Seit Annes Vater abgehauen war, war sie krank geworden. Henry machte es besser, und wenn es nur Schein war.
Anne wurde aus den Gedanken gerissen, als im Nebenraum eine Glasflasche an der Wand mit einem lauten klirren zerscholl, gefolgt von einem bösen Brüllen. "DU PENNER, DU GOTTVERDAMMTER ARSCH! DAS WAR EIN FAUL! BRIGHTON HÄTTE DURCHLAUFEN KÖNNEN, ABER DU...! UND DER SCHIEDSRICHTER MACHT GAR NICHTS... IHR SEID DOCH ALLE BESTOCHEN, IHR FEIGEN HUNDE!" Anne presste die Lippen zusammen, ihre Brust zog sich automatisch ängstlich zusammen. Julie hatte erschrocken beim Essen innegehalten und sah Anne nun abwartend an, als würde die gleich dazu aufrufen in Ruhe weiter zu Essen. Doch sie zögerte nicht lange, Anne packte Julie am Arm und achtete nicht darauf, dass sie die Milch in ihrer umherschwappenden Schüssel perplex verschüttete. Henry polterte derweil weiter, brüllte, dass es Anne in den Ohren klang. Wie ein Sturm, der losbrach um sich in der Küche niederzulassen. Unsanft stopfte sie Julie in den winzigen Voratsraum, neben der Küche und gebot ihr hastig flüsternd die Tür zuzuschließen. Julie schaute Anne mit Lämmeraugen an, total erschrocken, was nun passierte. Julie bekam zwar den Streit machmal mit, aber die meiste Zeit über war sie in der Schule. Am Abend war Henry meistens schon am schlafen, wenn Julie nachhause kam und eine aufgewärmte Dosenmahlzeit auf dem Tisch vorfand. Dann schlief er auf der Couch seinen Bierrausch aus.
Anne schloss die Tür des Voratsraumes und lehnte sich von außen dagegen, als Henry die Küche betrat. Die Adern pumpten auf seiner hochroten Stirn und sein Blick war auf den Kühlschrank fixiert. Mit klopfendem Herzen presste Anne sich an die geschlossene Tür und hoffte, dass er sich nicht bemerkte. Wütend riss er die Kühlschranktür auf, schaute in alle Fächer, warf den Inhalt achtlos auf den Boden. Offensichtlich suchte er Bier, was jedoch leer war. Es gab keines mehr. Anne schluckte. Henry schmiss die Tür zornig zu und sah dann zu Anne. Sie merkte sofort wie sich der Inhalt in ihrem Magen umdrehte. "WIESO HAM WIR KEIN BIER?", fragte er laut, sodass kleine Spucketropfen in ihre Richtung flogen. Sie schüttelte hastig den Kopf. "I-ich muss vergessen haben-" "DU HAST VERGESSEN? WAS HAST DU VERGESSEN?", durchschnitt we ihre zittrigen Worte und kam auf sie zu. Bedrohlich, widerlich, wütend. Er war im stehen nicht größer als sie, aber sein gedrungener Körper wirkte trotzdem bedrohlich. "Ich habe vergessen Bier zu kaufen.", gestand Anne ängstlich und versuchte sich noch dichter an die Tür zu pressen. Da griff seine breite Hand in ihr Haar und zog sie brutal an sein Gesicht. Sie verzog schmerzlich das Gesicht und versuchte seinen Griff sofort zu lösen. Vergeblich... "DU DUMME KLEINE GÖRE! DU WÜRDEST SELBST DEINEN KOPF VERGESSEN, WENN ER NICHT ANGEWACHSEN WÄRE. WAS KANNST DU EIGENTLICH, AUßER ATMEN UND FRESSEN?", brüllte er ihr direkt ins Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, als würde das helfen dieser Situation zu entfliehen. Annes Lippen bebten und so sehr sie sich auch vorgenommen hatte nicht zu weinen, sie merkte wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. "Tut mir leid...", haspelte sie gleich mehrere Male. Sie wusste, dass ihn das nicht beschwichtigen würde.
Für einen Moment lockerte sich sein Griff, Anne öffnete überrascht die Augen, da wurde sie schon an den Haaren zurück an die Tür gewurfen, dass sie kurz Sterne sah. Seine Hand verschwand aus ihrem Haar, riss ein paar Haare heraus. "Es tut dir leid, immer tut es dir leid.", spuckte er spöttisch aus und knackte geräuschvoll mit seinen Fingern. Anne hielt sich den schmerzen Kopf und konnte die Schluchzer nicht mehr zurück halten. "Ich hol dir Bier, ich hol dir-", wimmerte sie leise und wollte schon nach dem Notsparschwein auf dem Thresen greifen. Da traf sie eine Faust direkt in den Bauch. Sie sackte in sich zusammen, würgte, röchelte nach Luft. "SCHNAUZE! Ich hol es mir selbst.", knurrte er, ohne darauf zu achten, das Anne sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmte und sich schützend den Bauch hielt. Ihr ganzer Körper wurde geschüttelt von Schmerz. Alles lief nur noch in Schatten vor ihren Augen ab. Wie Henry das Notsparschwein mit dem niedlichen Hut und dem vierblättrigen Kleeblatt im Mund zu Boden war, sich die paar Scheine heraus nahm und dann kalt über sie rüber stieg. "Und mach, dass das hier wieder ordentlich aussieht, wenn ich wiederkomme. Sonst werd ich noch ganz anders.", murmelte er in ihre Richtung und ging. Anne wimmerte unter Tränen und versuchte möglichst nicht so laut zu sein, damit ihre Mutter sich keine Sorgen machte.
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Hallöchen!
Nach einer so langen Pause kann es jetzt weiter gehen. Ich war leider etwas verhindert in der letzten Zeit, deshalb kam nichts.
Hoffentlich ist mir der Einstieg gelungen :)
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Soldiers Scars #PlatinAward
General Fiction„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...