„Kobolde?", fragte Julie entgeistert und schaute von ihrem Teller Toast mit Marmelade auf. Sie sah heute schon besser aus als gestern, hatte mehr Farbe im Gesicht und schien jedenfalls für den Moment, wo sie sich nicht zu viel bewegte keine Schmerzen zu haben. „Ja klar, hast du noch nie davon gehört?", gab Stefan genauso entgeistert zurück, als würde er von einer Einkaufsliste reden bei der Julie das wichtigste Produkt nicht kannte. Anne zog die Augenbrauen hoch und verfolgte das Gespräch interessiert. „Doch, natürlich habe ich schon mal davon gehört. Aber das sind doch nur Märchen für kleine Kinder. Du willst doch nicht erzählen, dass du an sowas glaubst.", meinte Julie fast mit ihrer gewöhnlichen Selbstsicherheit. Ju schien sich köstlich über ihr Gespräch zu amüsieren und warf Anne einen verschwörerischen Blick zu. Sie saß Julie gegenüber und schmunzelte stumm in sich hinein. Stefan verdrehte gespielt die Augen und schnalzte empört mit der Zunge. „Märchen für Kinder", murmelte er vor sich hin, als wäre er beleidigt. Julie warf Anne einen fragenden Blick zu, doch diese zuckte nur mit den Schultern und biss von ihrem Toast ab. „Außerdem sprach ich nur von einem Kobold. Und der Blitz soll mich treffen wenn ich lüge! Er war gleich da vorn, ein paar Meter hinter dir und verschwand im Flur. Unsere Tante muss ihn mitgebracht haben, sie hält sich mit Leidenschaft diese kleinen Biester.", erklärte Stefan mit einem leichten Lächeln, sodass Anne sich nicht sicher war, ob er auch wirklich an seine Geschichte glaubte, oder Julie gerade einfach etwas erzählte um sie zum Lachen zu bringen. Anne sah zu Derren der undurchsichtig zu Stefan sah und ziemlich mechanisch den letzten Rest seines Toasts verschlang. „Alles klar...", murmelte Julie zweifelnd und aß weiter. Stefan seufzte. „Du glaubst mir nicht, aber damit kann ich leben. Wenn auf seltsame Weise aber deine Socken verschwinden oder dir anderes Unglück passiert, dann komm bloß nicht zu mir und sag, ich hätte dich nicht gewarnt." Stefans Stimme blieb eine Mischung aus Ernsthaftigkeit und lebhafter Erzählung. Anne konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Wir werden darauf achten.", mischte sie sich amüsiert ein und nahm Julie die Möglichkeit eines irritierten Schweigens. „Du bist ein ziemlich mieser Geschichtenerzähler.", kommentierte Derren schließlich auch noch und erntete einen beleidigten Blick von Stefan. All das brachte Julie nun doch zum Lachen. Mehr als für sie gut war.
Sie beugte sich reflexartig nach vorn, lachte kurz und herzlich, ehe ihr Lachen zu einem erstickten Wimmern wurde. Sie schien einen Moment keine Luft zu bekommen, keuchte angestrengt und würgte scheinbar. Anne wurde es eiskalt, besorgt legte Anne ihr eine Hand auf die Schulter, als könnte sie ihr so durch den Schmerz helfen. Julie bebte kurz unter ihrem Griff, krampfhafte Atemzüge folgten in denen sie sich den Brustkorb mit der Hand hielt. Anne konnte Tränen sehen, da fing sich Julie wieder und versuchte möglichst flach weiter zu atmen. Annes war es heiß und kalt, sie ertrug Julies Schmerz kaum. „Braucht sie einen Arzt?", fragte Ju dann plötzlich auf der anderen Seite, folgte Julies Arm zu ihrer Hand und legte dann ihre Hand ebenfalls auf die Stelle. Anne schluckte perplex, nickte dann aber leicht. „Wir hatten ohnehin vor heute ins Krankenhaus zu gehen.", meinte sie, als Ju Julie eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischte und sie aufmunternd anlächelte. „Ich kann euch fahren.", steuerte Stefan sofort hilfsbereit bei. Anne warf ihm einen Blick zu und sah, wie er besorgt die Stirn runzelte. Und wieder wunderte sich Anne wie schnell er von einer Emotion in die andere gehen konnte. Eben noch vergnügt und reißerisch, war er jetzt ernst und besorgt. Anne wischte ihre Verwunderung in den Hintergrund und nickte dankbar. Sie wusste nicht, ob sie und Julie nochmal so einen Fußmarsch schaffen würden. „Geht es wieder? Vielleicht solltest du dich lieber hinlegen.", hörte Anne Ju an Julie gewandt sagen. Doch Julie schüttelte den Kopf und wischte sich ein paar Tränen weg. „Wie ist das passiert?", fragte dann Derren mit ernster, nicht allzu freundlicher Stimme. Anne war sich nicht sicher, ob er das an sich bemerkte, aber es erschreckte sie immer wieder.
Julie sah zu Derren und schluckte sichtbar. Anne wollte gerade zu der Geschichte ansetzen, die sie sich gestern zurecht gelegt hatte, als Julie überraschenden Mut besaß. „Das war Henry... unser Stiefvater." Vor Schreck verschlug es Anne die Sprache und sie schloss den Mund, den sie für ihre Ausrede geöffnet hatte. Julie schniefte einmal und sah dann Anne an, als suche sie Bestätigung in ihren Worten. Doch Anne wurde es in diesem Moment heiß und kalt, während sie ihr Gesicht unfreiwillig tomatenrot färbte. Sie war sich sicher jetzt kein Wort rauszubekommen. Wie konnte Julie nur so private Dinge erzählen? Dinge, die nur sie beide etwas anging. Anne wurde es schwindelig vor Sorge und sie wagte kaum einen der anderen anzusehen. Dadurch, dass sie ihren eigenen Horror erlebte, konnte sie das angespannte Schweigen das auf Julies Worte folgte nicht bemerken. Derren zog einfach zischend die Luft ein, dachte sich seinen Teil, während Stefan einen Fluch auf gälisch ausstieß.
Ju war die erste die das Schweigen brach. „Was genau ist passiert?", fragte sie behutsam und schaute auch zu Anne, die die Lippen aufeinander gepresst hatte und das ganz dringende Bedürfnis verspürte aus dieser Situation zu fliehen. Sie wollte nicht über ihre familiären Probleme reden. Aber jetzt wo die Katze aus dem Sack war, ließ sie sich auch nicht wieder hineinbringen. Zum Glück antwortete Julie für sie beide. „Er ist ausgerastet. Also... nicht das erste Mal.", sie knabberte sich verunsichert an den Fingernägeln. Eine Angewohnheit, die sie eigentlich schon vor Jahren abgelegt hatte. „Und dann hat er uns verprügelt. Ich... hab ihn wütend gemacht. Es ist also meine Schuld gewesen." Ihre Stimme zitterte immer mehr, doch sie fing nicht an zu weinen. Sie atmete kurz in der absoluten Stille durch, sammelte sich, während sie auf die Tischplatte starrte, als könnte sie darin ein verborgenes Muster sehen. „Anne hat versucht ihn zu beschwichtigen. Das macht sie immer... Aber er ließ sich nicht beruhigen." Anne biss sich auf die Zunge. Sie wollte das nicht hören, wollte nicht, dass irgendjemand das hörte. Es tat so weh, ihr Herz pochte schnell und heftig in ihrer Brust. Das Gefühl des ausgeliefert seins und der Scham war übermächtig geworden. Sie fühlte sich, als könnte sie kaum atmen in diesem Raum, das Blut rauschte ihren Ohren während ihr Gesicht so heiß brannte wie noch nie. „Er wurde nur noch wütender... Nachdem er uns getrennt hat, hat er auf mich eingeprügelt. Immer und immer wieder... Ich dachte..." Die Worte brauchten immer länger, um Julies Lippen zu verlassen. Ju hatte ihre Hände umschlungen und streichelte sie vorsichtig. „Ich dachte...", wiederholte Julie, als würde sie nicht weiterkommen. Sie schluckte, atmete zitternd durch und da waren nun tatsächlich Tränen, die an ihren Wangen herunter rollten. „Shh, du musst uns das nicht erzählen. Es ist schon gut.", meinte Ju leise, doch Julie schüttelte energisch den Kopf ohne sie anzusehen. „Ich dachte ich würde sterben. Ich dachte... Anne würde sterben, wenn er mit mir fertig ist. Ich hatte solche Angst...", schluchzte Julie nun mit letzter Kraft und brach dann in Tränen aus. Anne presste die Lippen wenn überhaupt möglich noch ein Stück weiter aufeinander. Es zerbrach ihr das Herz Julie so hemmungslos weinen zu sehen. „Sh, es ist gut. Alles ist gut...", flüsterte Ju, kaum noch für Anne verständlich und zog Julie vorsichtig in die Arme. Etwas, was Anne hätte tun sollen. Doch sie sah nur steif auf ihrem Sitz und brachte keinen Ton mehr heraus.
„Es tut mir so leid was passiert ist.", murmelte Ju weiter, und löste damit unwissentlich den Supergau in Anne aus. Die ganze Zeit hatte sie sich vor Mitleid gefürchtet, dass genau das passieren würde. Sie wusste irgendwo in ihrem aufheulenden Inneren, dass Ju es wahrscheinlich gar nicht bewusst war, was sie da gerade getan hatte, aber vor Annes Augen verschwamm alles. Sie fühlte sich eingeengt, unverstanden und so gründlich bemitleidet, wie es eben ging. Anne hasste es, sie hasste es so sehr, dass sie das es keine Sekunde länger hier aushielt. Mit hoch rotem Gesicht sprang sie von ihrem Stuhl und warf diesen dabei um. Alle Augen waren mit einem Mal auf sie gerichtet. „Hör auf!", schrie sie Ju und Julie gleichermaßen an. Ju schien einigermaßen verwirrt und sah sie sprachlos an, während Julie gar nicht reagierte. „Hör auf!", wiederholte Anne etwas leiser und diesmal ausschließlich an Ju gerichtet. Diese blieb verwirrt, schaute sie aber mit ruhigen Augen an. „Hör auf uns wie kleine Mädchen zu behandeln die dein Mitleid brauchen. Hör auf so zu tun, als ob du irgendwas verstehst. Misch dich nicht ein!", schrie Anne nun wieder und merkte wie aufgelöste Tränen ihre Wange runter rollten. Doch sie achtete nicht darauf. Anne atmete schwer und merkte kaum das zittern ihrer Arme mit denen sie auf den Tisch geschlagen hatte. „Du verstehst nichts... Du hast kein Recht Mitleid zu haben.", schluchzte Anne nun doch mehr als sie es schrie und schlug sie eine zitternde Hand vor den Mund in dem verzweifelten Versuch sich so wieder zu fangen. Sanfte Finger strichen über ihren Arm, nicht von Ju, es war Derren der sich zu ihr rüber gelehnt hatte und vergeblich versuchte, sie zu beruhigen. „Anne", sprach er leise und einfühlsam, als wären sie die einzigen im Raum. Anne schüttelte den Kopf, schlug seine Hand weg und holte zitternd Luft. „Lass mich in Ruhe. Ihr alle! Lasst mich einfach...", sagte Anne halbwegs verständlich. Schweigend und hilflos sahen sie drei Augenpaare an, Julie blickte ebenfalls stumm auf ihre Hände, als hätte sie sowas kommen sehen. Anne wurde es schlecht von so viel Aufmerksamkeit, ihre Schluchzer hallten zu laut in ihren Ohren, das Zittern nahm zu. Sie musste hier weg! Einfach irgendwohin wo sie allein war.
Und so drehte sie sich einfach um und floh aus dem Rampenlicht, in dass sie sich gerade gestellt hatte, vor den Blicken und Worten, die doch nichts ändern würden, vor dem geheuchelten Verständnis für ihre Probleme, einfach vor allem. Sie verließ den Raum, rannte zur Haustür raus und dann immer weiter durch den Schnee, der kalt auf ihrer erhitzten Haut zerschmolz.
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Soldiers Scars #PlatinAward
Fiksi Umum„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...