Offenbar öffnete Henry die Haustür. Seine Stimme war leise aus Annas Position aus zu vernehmen. Sie wischte sich die Tränen notdürftig mit dem Handrücken fort und lauschte, wer da vor der Tür stand, während sie versuchte sich etwas zu beruhigen.
Der Stimme nach war es ein Nachbar aus dem Erdgeschoss, der den Streit mitbekommen hatte und mal nach dem rechten schauen wollte. Es war ein mittel alter Mann, der ebenfalls keine blütenweiße Weste hatte und unter der Hand als Drogendealer im Viertel bekannt war. Aber wenn selbst er sich hoch bemühte, weil es sich um Anne und Julie sorgte, war es ernst. Nicht, dass Anne eine Sekunde an der Ernsthaftigkeit und dem Schrecken dieses Momentes gezweifelt hätte. Sie zitterte noch immer und wagte nicht, sich zu bewegen. Ihre heiße, von Tränen nasse Wange drückte sich an das Holz der Tür, während sie ihrem Hals kein Geräusch zutraute. Selbst ein kratziges Räuspern schien ihr zu laut und zu schmerzhaft.
„... nein, nein alles in Ordnung. Nur ein kleiner Streit in der Familie.", schien Henry gerade um Ruhe bemüht abzuwinken. Er war widerlich, wie er so schnell zu einem normalen, freundlichen Mann wechseln konnte. So, als wäre nie etwas passiert. „Ich habe aber die Mädchen schreien gehört.", hielt der Nachbar mit leiser Stimme dagegen. Anne wäre am liebsten raus gelaufen und hätte ihm zugerufen, dass er sie hier raus holen sollte. Ihr wäre im Moment alles lieber, als diese Wohnung. Ja sogar die schlampige, nach sämtlichen Substanzen riechende Wohnung dieses nicht besonders angenehmen Nachbarn. „Naja, sie waren eben sehr aufgeregt. Mädchen schreien schon mal, wenn sie wütend sind. Das wüssten Sie, wenn sie eigene Kinder hätten.", meinte Henry lapidar, noch immer so ruhig und freundlich, dass man ihm kein Verbrechen anhängen würde. Anne schüttelte vor stummen Entsetzen den Kopf und blinzelte neue Tränen weg. Bitte glaub ihm das nicht, flehte Anne innerlich. Bitte frag, ob du uns mal sehen kannst. Ob du sehen kannst, dass wir wohlauf sind. Bitte! Doch der Nachbar tat ihr diesen Gefallen nicht. „Wie auch immer, dass nächste Mal bitte etwas leiser, wenn's geht. Andere Leute hatten vielleicht eine lange Nacht und brauchen Ruhe am Tag.", gab sich der Nachbar schlicht zufrieden. „Nein", wisperte Anne kaum hörbar und schloss gequält die Augen. Neue Tränen liefen ihr über die Wangen. Geh nicht... „Dann wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Tag.", wünschte Henry mit einer viel zu freundlichen Stimme und die Haustür fiel wieder ins Schloss. Anne zuckte von der Zimmertür zurück und kroch einige Meter davon weg. Neue Angst kochte wieder in ihr hoch und sie lauschte darauf, Schritte auf der Treppe zu hören. Würde er jetzt wieder hochkommen und sich diesmal Anne vornehmen? Was war mit Julie? Anne konnte sie nicht mehr hören. Kein Atmen, kein Weinen, nicht mal ein schmerzvolles Wimmern. Nichts...
Als unerwartet die Tür aufgeschlossen wurde, zuckte sie zusammen und kroch zurück, bis sie mit dem Rücken hart an ihren Nachttisch stieß. Anne merkte es nicht einmal, so sehr raste ihr Herz, als sich die Tür einen Spalt breit öffnete. Sie hatte Henry nicht die Treppe raufkommen hören, und tatsächlich zeigte sich dann auch das tränenbedeckte Gesicht ihrer Mutter in der Tür. Sie legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete Anne leise zu bleiben. Zitternd sah Anne zu ihr, sah zu wie sich weinte und fast so sehr zitterte, wie Anne selbst. Es vergingen einige Momente, dann verschwand ihre Mutter wortlos in Richtung des Schlafzimmers.
Anne schluckte angestrengt und versuchte sich irgendwie zu beruhigen. Henry hörte sie nicht mehr, doch sie wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Sie atmete bebend ein und aus, schloss kurz die Augen und zwang sich, klarer zu denken. Mit dem Ärmel ihres Pullis wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Ein- und ausatmen... Stille! Anne öffnete die Augen und sog die Luft tief ein. Sie konnte nicht hier bleiben. Nicht eine Sekunde! Nicht, solange Henry da war. Allein seinen Namen zu denken schnürrte ihr die Luft ab vor Angst. Nein! Sie durfte nicht hier bleiben. Henry würde sie umbringen. Sie und Julie. Früher oder später. Und wenn sie jetzt nicht ging, dann würde es das nächste Mal vielleicht schon zu spät sein.
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Soldiers Scars #PlatinAward
Aktuelle Literatur„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...