Kapitel 51 - Am Morgen

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Stefan hatte sich wirklich Mühe gegeben das Wohnzimmer, das sich überraschend hinter einer Tür in der Küche versteckte herzurichten. Er hatte einen Haufen Kopfkissen und zwei Decken rangeschafft, bei denen es Anne selbst am nächsten Morgen noch ein Rätsel war, wo er sie denn jetzt genau hergenommen hatte. Nachdem sie mit hoch rotem Kopf mit Derren noch ein paar Minuten im Bad gesessen hatte, waren sie zusammen ins Wohnzimmer gegangen, wo Stefan Julie überaus lebendig von den peinlichsten Situationen an Weihnachten erzählte. Immerhin brachte er sie zum Lachen, was Anne freute. Julie hatte ein bisschen bessere Laune nach diesem Tag wirklich verdient. Und Stefan war wohl eingesprungen und hat versucht die Stimmung zu heben - offensichtlich erfolgreich. Als Anne und Derren in den Raum kamen hörten sie Julies ersticktes Lachen, da Stefan gerade von einem Ereignis erzählte, wie eine ihrer Großcousinen aus Irland das Gespräch am Tisch vorletztes Weihnachten mit unpassenden Geschichten angeführt hatte.

Es hatte so gut getan Julie wieder lachen zu hören, auch jetzt, am nächsten Morgen lächelte Anne als sie daran zurückdachte. Sie gähnte und wandte den Blick von Julie, die noch friedlich schlief zu dem blassen Lichtschein, der durch die Vorhänge drang. Das Wohnzimmer bestand aus einer Gruppe Sitzmöbel einem sehr großen Fernsehtisch, der aus dem Sattelstück einer Baumkrone bestand und einer abgerundeten Fensterfront, die jetzt, wo das frühe Tageslicht hindurch schien das ganze Zimmer trotz der Vorhänge erhellte. Hinter der Fensterfront konnte Anne die Reste einer Terrasse sehen und einem kleinen Garten dahinter. Sie war verblüfft wie groß dieses Haus war wenn es oben nochmal die selbe Grundfläche hatte. Ganz anders als bei ihr zuhause... wo Henry sicher nicht die geringste Reue verspürte, dafür das er sie beide fast zu Tode geprügelt hatte und ihr einziger Ausweg die Flucht war.

Mit deutlich getrübterer Stimmung sah Anne noch einmal auf Julie runter, die trotz des zufriedenen Gesichtsausdrucks nur flach atmen konnte. Sie musste in ein Krankenhaus, das war Anne klar, aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollten ohne Geld und Familie im Hintergrund. Man würde hinter ihrem Rücken die Polizei rufen und Henry kontaktieren. Der würde sie wieder nach Hause bringen... und verdammt wütend sein. Wahrscheinlich wütender als je zuvor in seinem Leben. Allein die Vorstellung ließ es Anne kalt den Rücken runter laufen und ihr wurde schlecht bei der Vorstellung, was er dann mit ihnen machen würde. Sie waren in einer Zwickmühle. Selbst wenn sie jetzt selbst zur Polizei gingen und Henry anzeigten würde man ihnen wohl kaum glauben. Teenager waren unmündig und wurden oft nicht für voll genommen. Außerdem hatte Anne Angst, dass man sie beide von ihrer Mutter wegreißen würde und sie in ein Heim steckte, wo die Verhältnisse in den meisten Fällen war ziemlich schlecht waren. Es war aussichtslos, jeder Weg schien der Falsche zu sein und Anne war geplagt von Angst. In etwas weniger als zwei Monaten war sie achtzehn und sie hatte keine Ahnung, wie sie solange durchhalten sollte. Klar, Derren hatte ihr etwas Mut gemacht indem er seine Hilfe versprochen hatte, aber Anne wusste nicht, wie er ihr helfen konnte.

Mit zugeschnürter Kehle schluckte sie bittere Tränen runter und stand vorsichtig auf, um Julie nicht zu wecken. Leise ging sie zur Tür und in die Küche, wo sie die Verbindungstür vorsichtig schloss. Dahinter war es still, die Uhr zeigte kurz nach sieben an und außer dem Ticken der Standuhr aus dem Flur und dem monotonen Summen des Kühlschranks war nicht zu hören. Anne fühlte sich unbehaglich in einem fremden Haus herumzulaufen während seine Bewohner wahrscheinlich noch schliefen. Sie biss sich auf die Unterlippe und überlegte, während sie auf ihre nackten Füße sah. Sie konnte natürlich wieder zurück ins Wohnzimmer gehen und versuchen noch ein bisschen zu schlafen, aber sie fühlte sich nicht müde genug dafür. Außerdem würde sie dann wieder ins Grübeln kommen, was sie als nächstes tat und das wollte sie gerade einfach nicht. Sie musste sich früh genug mit dieser Frage auseinandersetzen.

Sich unsicher eine Strähne aus dem Gesicht streichend schaute sie zum prächtig geschmückten Wintergarten. Im Tageslicht wirkte er viel pompöser als noch wenige Stunden zuvor. Die Tassen von der Nacht standen leer getrunken und verwaist auf dem Tisch. Und da Anne sowieso nicht wusste, was sie jetzt machen sollte beschloss sie, die Tassen abzuräumen. Es war schnell erledigt, ein paar Handgriffe, die das klappernde Geschirr ins Waschbecken beförderten und es mit etwas Seife sauber machten. Sie erschrak kurz, als unerwartet die Verbindungstür zwischen Flur und Küche geöffnet wurde. Ein viel zu müder Derren bahnte sich seinen Weg hinein, wobei er sie zunächst nicht mal bemerkte, so verschlafen schien er. Offensichtlich war der Rest seiner Nacht nicht sehr erholsam gewesen. Anne wusste nicht recht was sie tun sollte, also blieb sie wie fehlplatziert vor der Spüle stehen und stimmte ein heiseres ‚Guten Morgen!' an. Derren, der auf dem halben Weg zum Kühlschrank war hielt inne und sah zu ihr. Sofort breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus und er erwiderte den Gruß. „Gut geschlafen?", fragte er mit noch rauer Stimme und fuhr zum Kühlschrank, um sich Milch herauszunehmen. Anne nickte. „Ja, danke für eure Gastfreundschaft. Du auch?", fragte sie aus dem Reflex heraus und presste die Lippen im nächsten Moment aufeinander. Derren füllte sich scheinbar ruhig ein Glas ein und zuckte mit den Schultern. Taktlos, mahnte sich Anne innerlich und atmete tief durch. Sie hätte wissen sollen, dass es kein guten Gesprächsthema bot. „Albträume", presste Derren hervor. Anne hatte gar nicht erwartet, dass er noch etwas dazu sagte, deshalb war sie jetzt überrascht. Und er sprach sogar noch weiter. „Seit dem Unfall träume ich immer wieder davon. Immer wieder der gleiche Moment in Endlosschleife, wie eine kaputte Schallplatte. Seb und ich laufen durch den Dschungel, fliehen vor der Sinnlosigkeit des Tötens..." Er nahm einen Schluck Milch. Anne wagte nicht irgendwas zu sagen. „Erst der Schusswechsel, dann das Verstecken in einem Busch und dann explodiert alles. Immer wieder das gleiche. Mittlerweile weiß ich schon im Traum was passieren wird und versuche es zu verhindern, doch ich schaffe es nicht. Am Anfang hatte ich Angst vor dem Ausgang, wollte überhaupt nicht mehr einschlafen. Jetzt ist es zu einer traurigen Gewissheit geworden. Vielleicht werde ich diese Alpträume nie los, die mich davon abhalten zu schlafen. Vielleicht bin ich dazu verdammt immer wieder alles zu sehen und teilweise auch zu fühlen." Derren lächelte freudlos. Anne wusste nichts darauf zu sagen, jedes Wort wäre unnötig gewesen. „Und weißt du was das schlimmste daran ist?", fragte Derren mehr rhetorisch. Anne schüttelte wortlos den Kopf, um ihn nicht zu unterbrechen. „Die neuen... Wendungen. Manchmal ist es nicht Seb, den ich schwer verletzt sterben sehe, sondern jemand aus meiner Familie. Manchmal ist es nicht der Dschungel, der explodiert, sondern dieses Haus. Alles ist irgendwie verworren.", erzählte Derren, als wäre er noch gar nicht richtig wach, als würde er das alles gerade sehr real vor sich sehen. Annes war von der Tiefe seiner Worte wie versteinert. Mitleid verknotete ihre Gedärme und sie war sich nicht sicher, ob es das Gefühl in ihr auslösen wollte. „Letzte Nacht warst es du..." Sein Flüstern ertränkte er in seinem Glas, als wäre es ein Schnaps und keine Milch. Anne merkte auf. „Ich? Du hast von mir geträumt?", fragte sie, als wäre sie schwer von Begriff. Er lächelte breiter. „Nicht das erste Mal, muss ich leider gestehen." Anne konnte nicht verhindern, dass ihr Gesicht warm wurde. Sie schluckte ihre aufkommende Verlegenheit runter. „Hoffentlich nicht immer so schlecht?" Derren lächelte traurig, was ihre Frage beantwortete, doch von einem auf den anderen Moment wechselte er seine Stimmung wieder und sah Anne freundlich an. Natürlich waren es nur schlechte Träume, weil all seine Träume schlecht waren. „Ich langweile dich bestimmt nur. Verzeih, das ich damit angefangen habe. Wir sollten über etwas weniger düsteres reden.", schloss er etwas zu eilig und machte eine Poste, als müsste er nachdenken, worüber sie als nächstes reden konnten. „Hast du Hunger?", fragte er dann nach wenig Überlegen. Anne begann zu lächeln und nickte eifrig. „Ich verhungere!"

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Hallo 👋🏼
In den nächsten Wochen wird wahrscheinlich erstmal nichts kommen, denn ich mache eine kleine Sommerpause... Ich wünsche euch eine schöne, warme Zeit ;)
Eure Janett

Soldiers Scars #PlatinAwardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt