Als Henry in dem kleinen hölzernen Schuppen erwachte war da erste was er wahrnahm der Geschmack von Blut auf seiner Zunge. Er brauchte einige Atemzüge bis er erkannte das seine Lippe aufgeplatzt war und er sich auf die Zunge gebissen hatte die nun geschwollen und pelzig seinen Mund ausfüllte. Es war also sein Blut. Er spuckte wässrig rötlich aus. In dem kleinen Raum roch es nach Rauch und als Henry mit Schwierigkeiten den Kopf ein bisschen zu Seite wandte konnte er ein knisterndes Feuer in einem Ofen sehen, dessen Abzug in einem kleinen, geschwärztem Loch in der Decke verschwand. Sah selbstgebaut aus, schlechte Arbeit. Henry hätte das besser gekonnt, jedenfalls war es das, was er dachte als er das kleine Modell Marke Eigenbau verächtlich betrachtete. Das nächste was er bemerkte, war, dass er gefesselt war. Er lag bäuchlings auf den morschen Dielen, die nach Staub und Erde, längst verwelkten Blumen und kalter Feuchtigkeit rochen, und war mit zwei Seilen flüchtig gefesselt worden. Sie waren eng gebunden, aber der Knoten der sie hielt war der eines Amateurs. Henry dagegen kannte sich aus mit Knoten. Er hatte zwar kein Boot, aber im Angeln war er dank der vielen Zeitungen, die er sich neben Zigaretten immer als Alibi von der Tanke mitgenommen hatte ein Profi. Früher hatte er das auch gerne gemacht, ein Wochenende nur er, ein Boot und eine Angel. Nächte an einem friedlichen Fluss, die Sterne über sich, wenn das Lagerfeuer schon längst erloschen war... Aber alles war den Bach runter gegangen als seine Ex sich in der Küche aufgehangen hatte, er durch Depressionen zu Trinken anfing und dadurch wiederum seine Anstellung in einem Unternehmen verlor. Unter anderem Umständen hätte er sich auch gar nicht auf diesen kleinen Haufen Unglück eingelassen, den Erika und ihre zwei Töchter darstellten, als er sie in dem billigen Diner nach einer durchwachsenen Nacht kennengelernt hatte. Er erinnerte sich, dass sie damals ebenfalls ein Gast war und er ihr einen Kaffee von nicht vorhandenem Geld spendierte. Sie war eine schöne Frau gewesen, müde und krank aber nichtsdestotrotz schön. Henry hatte sie in ein Gespräch verwickelt über irgendeine Belanglosigkeit, an die er sich nicht mehr erinnerte und hatte ihr das gegeben, was sie ihm nach kurzen Zögern verraten hatte.
Das einzige und größte Problem waren immer ihre Töchter gewesen. Henry hatte Kinder noch nie gemocht. Sie waren undankbar, dreist und verursachten mehr Unglück als sie an Glück entgegen brachten. Sie zogen einem erst das Geld aus der Tasche und dann den Willen zu Leben. Sie waren wie schlecht erzogene Haustiere, die einfach zu dumm waren Befehle anzunehmen und stattdessen lieber bockten und so taten als wolle man ihnen nur das schlimmste. Selbst Hunde waren da klüger. Und Anne und ihre Schwester waren die Spitze dessen, was Henry an Kindern hasste. Ihre bloße Anwesenheit brachte ihn immer wieder zur Weißglut, und wenn sie einfach das gemacht hätten, was er ihnen sagte, dann hätte er sich vielleicht noch ein bisschen am Riemen gerissen. Aber diese Mädchen... Sie waren aufmüpfige Mistgören, von keiner Vaterhand erzogen, so wie es nach Henry, eigentlich jedes Kind erlebt haben sollte, um wohlerzogen und brav und dankbar ihrer Vaterfigur entgegen zu treten. So, wie auch er von seinem Vater einst streng zu einem guten amerikanischen Mitbürger erzogen wurde.
Henry grunzte gereizt bei dem Gedanken, spuckte noch einmal aus und sah sich die Hütte genauer an. Zwei Fenster auf jeder Seite, die Tür mit einem verstärkten Schloss gesichert. Zu Henrys Ärger sah sie im Gegensatz zu dem Rest der Hütte relativ stabil und neu aus, schwer sie aufzubrechen und neben einigen Gerätschaften und leeren Blumentöpfen, in denen sich die Spinnen ein Heim bereitet hatten, konnte er kein Messer und keine Schere entdecken. Bestimmt hatte der junge Mann, der sich zuvor mit wütendem Eifer auf ihn geworfen hatte und den er zuvor noch nie gesehen hatte alles mitgenommen, was Henry auch nur im entferntesten helfen könnte. Na schön, dachte er. Dann eben auf dem uneleganten Weg. Er würde Julie und Anne nach Hause bringen und dann würde er die beiden erziehen wie er es für richtig hielt. Auf dem einzigen Weg, auf dem man dumme Gören wie sie erziehen konnte. Peitsche und Zuckerbrot. Erikas Tod indes war ein dummer und ungelegener Unfall, der ihm die Erziehung ihrer missratenen Kinder zusätzlich erschweren würde. Sie war laut geworden, hatte ihn angeschrien, was ihm denn einfiel ihre Töchter so zu behandeln und er war sowieso schon ungehalten gewesen, hatte die Hände um ihren Hals gelegt - etwas zu fest und zu lange offensichtlich - und dann war es schon passiert. Er hatte eh vorgehabt Erika zu verlassen, - wenn auch anders geplant - sobald sich die Gelegenheit bot. Die Ratte verlässt das sinkende Schiff eben rechtzeitig und er war verdammt spät dran. Jetzt würde er nicht ohne Blessuren davonkommen.
Mit viel Schwung schaffte er es sich herumzudrehen und konnte sich mit sabbernder Anstrengung und der Hilfe von einigen zu Boden fallenden Töpfen mit Erde und erfrorenen Pflanzen, auf die Füße stemmen. Es kostete ihn mehr Kraft als er zugeben wollte überhaupt aufrecht stehen zu bleiben, seine Muskeln zitterten merklich unter seinem Gewicht. Der Speichel rann ihm unkontrolliert aus den Mundwinkeln und tropfen dick und rötlich auf die hölzernen Dielen, die nach Erde, alten Blumen und nassem Holz rochen. Doch verdammt wollte er sein, wenn er sich jetzt aufhalten ließ und hier aufgab. Stöhnen wankte er zum Fenster links von sich , hielt sich mit den zu Klauen verkrampften Händen am Fensterrahmen fest und versuchte durch die dreckige Schreibe etwas außer weiß und Schnee zu erkennen. Keine Büsche und auch kein aufgestapeltes Feuerholz. Sehr gut! Sein Weg war also frei. Er grunzte noch einmal, und zog den Speichel mühsam zurück. Dann warf er den Kopf nach vorn, zuckte nicht vor der Scheibe zurück und bremste sich nicht ab. Ein glühender Schmerz durchzuckte seine Schädeldecke sein Gesicht und seinen Nacken hinab. Doch er ignorierte es stur und holte noch einmal aus, schlug seine Stirn wieder ungebremst und mit voller Wucht gegen das Glas. Und er holte wieder aus, obwohl ihm bereits die Sicht verschwamm und der Schmerz in seinem Kopf explodierte. Nach einem weiteren Schlag spürte er wie sich warme, klebrige Flüssigkeit von seiner Kopfhaut über sein Gesicht ergoss, an seinen Schläfen hinabfloss und sich in seinen Augenbrauen sammelte, wie ein Baumstamm einen Fluss hinderte. Auf der Scheibe zeichnete sich ein roter Fleck ab, der sich nach ein oder zwei weiteren Schlagen zu einem blutigen Spinnennetz formte, welches mit einigen Spritzern bis in die Ecken reichte. Doch Henry ließ sich nicht aufhalten. Er beugte sich niemanden, und schon gar nicht dieser Bande von Kindern deren Teil Anne und Julie jetzt sein wollten und die meinten, ihn mit lächerlichen Seilen aufhalten zu können. Fast wie das Kinderspiel bei dem Kinder wie wilde Indianer einen Erwachsenen an einen Baum fesselten in der Illusion er könnte sich nicht mehr selbst befreien. Doch es war nur ein Spiel. Eine Illusion von falscher Macht über ein anderes Individuum. Hier und heute, war Henry nicht nach spielen.
Wieder schlug Henry seine blutige Stirn mit voller Wucht gegen das Glas und endlich konnte er den glückbringenden Klang von brechendem Glas in dem 9 Quadratmeter Raum vernehmen. Ein feines, unregelmäßiges, schimmerndes Netz aus gebrochenem Glas in dem nun nicht mehr unversehrten Fenster und erweiterte sich, als er ein weiteres mal seinen Kopf dagegen warf, getrieben von manischem Hass und dem Bedürfnis seine Pflicht zu tun. Es hätte eigentlich wehtun müssen, und in Wahrheit wollte Henry vor Schmerz aufjaulen, toben und schreien, doch nach außen hin fühlte er gar nichts. Er fühlte sich, als würde der Schmerz irgendwo auf dem Weg zu seinem Gehirn verloren gehen, die Information unmöglich auszusprechen. Auch nicht, nachdem er ein letztes Mal den Kopf zurückwarf und ihn dann gegen die Scheibe rasen ließ. Da gab das Glas endgültig nach und Scherbe regnete über ihn und nach draußen von woher sofort kalter Wind hereinkam und sein teilweise feuchtes Haar durchkämmte wie eiskalte Nägel. Er keuchte stark, konnte durch sein eigenes Blut kaum noch sehen, welches ihm das Gesicht schmutzig rot färbte und in der plötzlichen Kälte dampfte. Aber er spürte eine ganz neue Art von Motivation, die ihn nun doch zum lächeln brachte. Nichts konnte ihn aufhalten, dachte er triumphierend bückte sich schwerfällig und ungelenk und hob eine der Scherben mit seinen zusammengebundenen Händen auf. Es war schwieriger aus gedacht das Seil mit der Scherbe zu lösen und er brauchte einige Ansätze um den richtigen Winkel zu bekommen. Einige Male schnitt er sich auch selbst in die Hände daabei, doch er merkte auch das nicht, denn jetzt floss neues Adrenalin, neue Kraft durch seinen Körper.
Als er seine Hände befreit hatte war das erste was er tat, in seine Hosentasche zu greifen und ein kleines Plastiktütchen mit weißem Pulver hervorzuziehen. Er brauchte das jetzt, hatte schon zu lange nichts mehr gehabt, fühlte sich wie ein ausgehungerter Löwe, der nach dem Blut seiner Beute gierte, nach dem Gefühl, welches es in ihm hervorrufen würde. Er jaulte vor Vorfreude fast schon nicht mehr menschlich klingend auf, schüttete sich ungeschickt etwas von dem Pulver auf seinen zitternden Zeigefinger, wobei eine nicht geringe Menge davon daneben ging und führte es sich hibbelig wie ein Teenager der seinen ersten Kuss hatte unter die Nase. Tief sog er den Stoff ein, genoss das brennende Ziehen, das es in seiner Nase, seinem Rachen und der Stirn auslöste.
Nachdem er alles erleichtert inhaliert hatte, stöhnte er beinahe schon extatisch auf, schob den Tüte wieder verschlossen in seine Hosentasche und stand einen Augenblick nur zitternd und bebend da. Nicht vor Kälte natürlich, obwohl ein strenger Wind stetig in den kleinen Holzschuppen fuhr, sondern vor Aufregung und auch Erregung wie er überrascht feststellte. Er zuckte darüber mit den Schultern, vielleicht machte er später noch einen Schlenker über eine der billigen Kneipen und besorgte sich eine der Nutten, die schon bei weitem nicht mehr mit den jungen Hühnern in den teuren Bordellen mithalten konnten. Naja, sie waren noch gut genug für ihn... Doch jetzt, richtete er sich zufrieden auf, die Scherbe noch immer in der nunmehr blutigen Hand, jetzt würde er sich erstmal um die Mädchen kümmern.
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Soldiers Scars #PlatinAward
General Fiction„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...