Es vergingen einige Tage seit dem Essen, in denen Anne immer wieder das Gefühl hatte vor Glück zu zerspringen. Selbst Henry, der besonders schlecht drauf war seit sie wieder nach hause gekommen war und sie am liebsten den ganzen Tag anschreien würde, konnte ihre Freude kaum mildern. Es war ein gutes Gefühl, eines der besten, das sie seit langem hatte.Wenn nicht sogar das Beste.
Sie arbeitete viel, unter anderem auch, weil sie es vorzog so wenig Zeit wie möglich in Henrys Nähe zu verbringen. Die Arbeit schien ihr der perfekte Ort, um etwas Abstand zu gewinnen. Doch als sie an diesem Nachmittag die Haustür aufschloss und den Regenschirm tropfend zur Seite stellte, war die Stimmung besonders schlecht. Sie hörte schon im Flur, wie Henry und Julie sich anschrien und ein Teller zu Boden klirrte. Ohne sich auszuziehen rannte Anne zum Ort des Geschehens. Julie stand da und warf Henry mit verschränkten Armen einen bitterbösen Blick zu. „Räum das auf!", befahl Henry ihr harsch und zeigte mit einem schwülstigen Finger auf einen zerbrochenen Teller, der zwischen nicht angefasstem Essen lag. Das Essen dampfte noch, Julie musste es gekocht haben, als Anne auf der Arbeit war. „Du räumst das jetzt sofort auf! ABER SOFORT, DU FRECHES BALG!", schrie Henry hysterisch, sodass die Wände wackelte. Er war offensichtlich stinksauer, was bei ihm ja nichts allzu ungewöhnliches war. Anne setzte zum Sprechen an, um zu schlichten, doch Julie übertönte sie ganz einfach. „Machs doch selbst! Du hast ja sonst den ganzen Tag nichts zu tun, du fauler, sich hier einnistender Fettsack!", warf Julie Henry entgegen, woraufhin er wütend aufbrüllte und vorsprang. Anne sah den beiden hilflos mit offenem Mund zu und wusste nicht recht, was sie jetzt tun sollte. Die Stimmung war so aufgeladen, dass es schon zuvor Streit gegeben haben musste. Jeder Versuch da noch irgendwie zu schlichten, würde schiefgehen. „NA KOMM HER! Wenn ich dich in die Finger kriege, dann kannst du aber was erleben, was du ganz sicher nicht mehr vergisst. Ich schlag dich grün und blau, dass du nicht mehr weißt ob Morgen oder Abend ist. Du ungezogenes Balg! Als ich in deinem Alter war, hatten die Kinder wenigstens noch Respekt vor den Älteren, sonst hat man sich eine eingefangen. Zack! Dann war der Spaß vorbei!", grollte Henry, wie ein Berserker und kam mit raschen Bewegungen auf Julie zu. Sie wich erschrocken zurück, bemüht immer genug Abstand zwischen sich und Henry zu bringen, dass er sie nicht erreichen konnte. „Henry, hör auf!", mischte Anne sich nun ein, doch Henry hörte sie gar nicht. Sein Gesicht war leuchtend rot vor Zorn, die Adern traten ihm am Hals und an der Stirn hervor. Er schien nicht mehr er selbst zu sein. „Genau, das ist das einzige was du kannst. Kleine Mädchen schlagen, um dir selbst zu beweisen, wie stark und toll du doch bist! Du bist so ein armseliger Loser. Nichts kriegst du hin, und deshalb musst du deinen Frust auf Wehrlose abwälzen.", provozierte Julie trotz furchtgeweiteter Augen weiter, obwohl sie den Bogen längst überspannt hatte. Anne hatte Angst, wie Henry darauf reagieren würde. Er grunzte derbe und hatte Julie nun erreicht. Er ragte aggressiv und gewaltbereit über ihrem schmalen Körper auf, die Hände zu steinharten Fäusten geballt. Anne sah das Unglück kommen! Sie rannte vor und hielt Henrys Arm fest, als dieser seine Hand gerade zum Schlag heben wollte. „Ich bring dich um, du Mistgöre! Du wirst mich auf Knien anflehen, so wie es sich für ein Mädchen deines Alters gehört.", knurrte Henry und holte mit der anderen Faust aus. Anne schnappte panisch nach Luft und tat das einzigste, was ihr in diesem Moment einfiel, auch wenn sie sich später für ihre Dummheit rügen würden. Sie schob sich rasch zwischen Julie und Henry, sodass sie gerade noch Julies entsetzten Blick sehen konnte, als der Hieb sie an der Seite traf.
Anne biss die Zähne zusammen, als sie den Schmerz spürte, der von dem Schlag wie ein brennender Vulkan ausging und sich in ihrem Körper verteilte. Unsanft stieß sie Julie bei Seite und wurde dann von Henry grob am Hals gepackt. Sie wollte panisch nach Luft schnappen, aber sie bekam kaum Luft. Mit neuer Angst versuchte sie verzweifelt seine Hand mit ihren wegzudrücken. Kratzte seinen Arm und zerrte an ihm biss er blutete, doch er ließ sie nicht los. Mit Gewalt drehte er sie zu sich herum und stieß ihren Kopf gegen die Wand hinter ihr, sodass sie kurz Sterne sah. Gleichzeitig war sie bemüht, Luft zu kriegen. „Hör auf, hier die Heldin zu spielen! Du bist genauso dumm wie deine Schwester und genauso unerzogen. Euer Vater, hat euch wohl nie beigebracht, was Manieren sind, wie sich ein Mädchen in eurem Alter zu verhalten hat. Ich werde dir zeigen, dass es Konsequenzen hat, sich einfach so aus dem Haus zu schleichen, und sonst was zu treiben, obwohl ich es verboten habe.", schrie er Anne ins Gesicht, während er so fest ihren Hals zudrückte, das sie kaum mehr atmen konnte und sie verzweifelt um Luft rang. Er sah sie mit vor Wut lodernden Blick an und wollte gerade ein weiteres Mal ausholen, als Julies Faust ihn hart im Gesicht traf. Sein Griff um Annes Hals lockerte sich augenblicklich und sie schaffte es, seine Hand wegzudrücken und einige Meter Abstand zu nehmen. Gierig sog sie die Luft ein und hustete rau. Annes Hals fühlte sich wund und geschwollen an. Julie stellte sich neben sie, die Hand noch immer zur Faust geballt. Und Henry... der bekam den Wutanfall seines Lebens. Er massierte sich er ungläubig das Gesicht, dann fixierten seine Augen Julie. Und wie er aussah! Er kam mit wütenden Schritten auf Julie zu. Diese setzte, Annes Hand packend zur Flucht an. „NA WARTE!", schrie Henry durch den Flur. Julie hetzte mit Anne los, rannte die Treppe rauf und stolperte fast dabei. Anne war damit beschäftigt zu atmen, sie spürte ihr Herz wie verrückt rasen. Alles drehte sich um sie herum. Es tat weh zu atmen, sie konnte noch immer den Druck von Henrys Händen fühlen. Und dieses Gefühl trieb ihr Tränen der Angst in die Augen. Er hätte sie wirklich umgebracht. Einfach so...
Oben angekommen riss Julie ihre Zimmertür auf und stieß Anne hinein. Henrys schwere Schritte donnerten die Treppe hoch. Und noch ehe Julie auch ins Zimmer flüchten konnte, war Henry hinter ihr und zog sie zu sich zurück. Julie schrie ängstlich auf. Anne schluckte gequält und wollte ihr zu Hilfe kommen, da knallte Henry die Tür vor ihrer Nase zu und schloss von außen ab. „Nein! Nein, nein, nein! Julie!", rief sie in Panik und rüttelte an der Tür. Sie bewegte sich kein Stück. Tränen liefen ihr über das Gesicht, auf der anderen Seite waren wilde Bewegungen zu hören. „Anne!", schrie Julie dumpf hinter der Tür. Anne warf sich gegen die Tür, hämmerte wild mit den Fäusten dagegen bis sie rot und geschwollen waren. Julie schrie auf, dann gleich noch einmal. Der folgende ging in ein Schluchzen über. Anne wurde es schlecht. „Henry nein!", schrie sie verzweifelt durch die Tür wobei ihre Stimme heiser brach. Ihr Hals brannte. Sie warf sich weiter mit dem Körper an die Tür, doch es brachte nichts. Sie war gezwungen zuzuhören wie Henry Julie wehtat.
Als irgendwann Stille einkehrte rutschte Anne schwach an der Tür hinab und weinte stumm und lange. Ihr ganzer Körper tat mittlerweile weh, ihre Stimme war vor Heiserkeit kaum noch zu hören und ihr Hals stand in Flammen. Alles schlug über ihrem Kopf zusammen, sie konnte nicht mehr klar denken. Die Sorge um Julie war übermächtig und drohte sie zu verschlucken. Das alles war wie ein Albtraum, aus dem Anne nicht erwachen konnte. Und genau in dem Moment klingelte es an der Tür.
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Soldiers Scars #PlatinAward
General Fiction„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...