Anne brachte das Tablett mit dem dampfenden Teller mit einem abgekühlten Pudding zum Nachtisch die Treppe hoch. Ihre Mutter las in einem Buch, als sie vorsichtig klopfte, darauf bedacht das Tablett nicht ins Ungleichgewicht zu bringen. Sie war blass und dünn in ihrem rüschenbesetzten Nachthemd. Als sie Anne sah begann sie zu lächeln, wie nur eine Mutter lächeln konnte. Stolz, ein bisschen melancholisch und mit so viel Liebe, dass es Anne sofort warm ums Herz wurde. Ihre Mutter legte das Buch fort und nahm das Tablett entgegen. „Danke, mein Schatz!" Anne erwiderte ihr Lächeln und sah zu wie ihre Mutter das Tablett betrachtete. „Du hast dir wieder so viel Mühe gegeben. Da bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nur so schwach hier nieder liege und euch alles aufhalse. Morgen koche ich wieder für uns, du hast schon genug zutun. Du und Julie, ihr müsst viel lernen und fleißig sein. Damit ihr eine gute Arbeit bekommt und zu anständigen jungen Frauen werdet.", sagte Annes Mutter mit einem weichen Ausdruck in den Augen und hustete dann. Ein hartnäckiger Husten, der sie seit ein paar Wochen befallen hatte. Nur ein Grund mehr für Anne, sich Sorgen zu machen. Er wurde trotz des Hustensaftes nicht weniger und schüttelte die zierliche Frau jedes Mal durch wie ein Sturm.
Ihre Mutter begann die Tomatensuppe zu löffeln, die Anne ihr gebracht hatte, nur unterbrochen durch einige Hustenanfälle, die sie dann und wann befielen. Anne seufzte stumm und von ihrer Mutter versteckt. Sie sollte Annes Sorge nicht sehen, dass würde sie nur ihrerseits beunruhigen. Doch in Wirklichkeit war es nur der Elefant im Raum, den keiner ansprechen wollte.
Anne öffnete ein Fenster, sodass sofort Straßenlärm gemischt mit Vogelgezwitscher hereindrang. Danach wischte sie grob den Staub mit einem Tuch von den Oberflächen weg und tauschte die Wasserflasche gegen eine neue aus. Alles wie immer, aber immerhin auch keine Verschlechterung. Anne freute sich sogar ein wenig, dass ihre Mutter wieder so viel Appetit hatte und genügend trank. „Hattest du Besuch? Ich habe eine fremde Stimme gehört.", bemerkte ihre Mutter irgendwann und wühlte sofort wieder auf, was Anne beim Kochen erfolgreich verdrängt hatte. Das Thema wirkte zufällig und deplatziert, aber Anne wollte ihre Mutter nicht mit einem einfachen Nein vor den Kopf stoßen. Sie runzelte nachdenklich die Stirn und setzte sich zu ihrer Mutter auf den Bettrand. Sie wusste nicht recht, was sie jetzt sagen sollte. Die Wahrheit? Aber dann musste sie ausholen, um alles so zu erklären, dass ihre Mutter es verstand. Halbwahrheiten? Waren immer noch halbe Lüge, aber immerhin leichter zu
erklären.Der Moment des Schweigens dauerte zu lang, ihre Mutter fasste nach Annes Hand. „Hab keine Sorge, du kannst mir alles sagen. Das bleib alles unter uns.", meinte sie herzlich und drückte Annes Hand leicht. Annes lächelte und entspannte sich etwas. „Ich habe gehört, dass es ein Mann war.", setzte sie an, um Anne zum Reden zu bringen. Anne räusperte sich peinlich berührt und atmete tief durch. „Ja, sein Name ist Stefan. Er... ist ein Freund von mir. Ich habe ihn auf der Arbeit kennengelernt.", erzählte Anne zögerlich, immer noch nicht sicher ob sie bei der Wahrheit oder fast der Wahrheit bleiben wollte. Der Blick ihrer Mutter sprach Bände. Ihr Lächeln hatte sich verbreitert und der Druck ihrer Hände war lockerer geworden. „Ein Freund?", forschte sie nach und suchte in Annes Gesicht nach Antworten. Annes Gesicht färbte sich eine Spur rosa. „Wir sind wirklich nur Freunde." Ihre Mutter lächelte trotzdem, als hätte sie etwas herausgefunden. Sie wirkte glücklich, viel glücklicher als Anne jemals zuvor gesehen hatte. „Und was habt ihr hier besprochen? Ich habe nur mitbekommen, dass er nicht lange hier war.", fragte ihre Mutter weiter. Anne schaute runter. Das war also der genaue Punkt, an dem sie entscheiden durfte, was sie ihrer Mutter erzählen wollte. Die Wahrheit, oder lieber die halbe Wahrheit? Diese kleine zerbrechliche Person in ihrem Bettlaken lauschte gespannt auf ob Annes nachdenklichen Schweigens. „Er hat mich am Freitag zu sich und seinen Eltern zum Essen eingeladen.", stieß Anne schließlich hervor, und bemerkte an sich die Aufregung, mit der ihre Zunge die Worte formte. Ihre Mutter drückte ihre Hand leicht. „Wie wunderbar! Aber dann müsst ihr auch einmal hier her kommen. Ich würde ihn zu gern kennenlernen.", lächelte sie fröhlich. Anne erwiderte das Lächeln vorsichtig, ohne zu wissen was sie sagen sollte. „Ich habe gehofft, dass du irgendwann mal einen Mann findest, der dich glücklich macht. Einen anständigen Gentleman, der dich sich um dich kümmern kann, wenn ich nicht mehr bin.", begann ihre Mutter etwas zu eifrig. Anne wurde nun komplett rot im Gesicht und glaubte wie eine Tomate aussehen zu müssen. Sie schaute ihre Mutter halb entsetzt, halb verlegen an. „Nein nein, er ist nicht... Wir sind nur Bekannte. Ich will ihn nicht... Ich-", stammelte Anne nach der richtigen Formulierung suchend, da warf sich ihre Mutter in ihr Wort. „Ja natürlich seid ihr nur Freunde. Noch... Ich habe deinen Vater damals auch über die Arbeit kennengelernt und ich dachte, wir wäre nur Freunde. Das hat sich mit der Zeit geändert. Irgendwann habe ich gemerkt, was für ein lustiger und sympathischer Mann er war und... naja, dann ist es passiert.", schmunzelte ihre Mutter mit einem leichten Hauch von Traurigkeit in den Augen. Anne runzelte die Stirn. Das war ihr gerade irgendwie alles zu viel. „Also mach dir keine Gedanken. Die Liebe kommt meistens erst, wenn man nur befreundet ist.", schloss sie sanft und drückte Annes Hand noch etwas fester. Anne versuchte sich an einem Lächeln, das nicht zu aufgesetzt aussah. Am liebsten hätte sie den Kopf geschüttelt und ihr gesagt, dass Stefan niemals ihr Typ sein würde und er nicht das war, was sie einen Gentleman nennen würde.
Aber sie schwieg. Sie wollte ihre Mutter nicht vor den Kopf stoßen. Gerade jetzt, wo sie sich so für Anne freute und seit so langer Zeit endlich wieder glücklich wirkte. "Kann schon sein.", murmelte Anne stattdessen und schluckte die Widerworte runter, wie ein dickflüssiges Sirup. Ihre Mutter lehnte sich mit dem Pudding in der einen und dem Löffel in der anderen Hand zurück und seufzte mit einem zu einem leichten Lächeln verzogenen Mund. Anne musterte sie dabei, stellte fest, wie entspannt sie wirkte. Als wäre ihr mit einem Mal eine Last von den Schultern genommen worden, die Anne zuvor nicht bemerkt hatte. "Stefan...", sprach Annes Mutter sich leise, als würde sie über etwas nachdenken oder als würde sie nur zu sich selbst reden. Anne runzelte fragend die Stirn. Jetzt dachte ihre Mutter also ernsthaft, dass sie etwas an Stefan fand? So viel Halbwahrheiten. Konnte diese ganze Situation noch unangenehmer werden? Offensichtlich konnte sie das. "Ist er Deutscher? Wegen des Namens?", fragte sie und sah Anne an. Diese unterdrückt ein peinlich berührtes Lachen. "Nein, seine Familie ist irisch... jedenfalls glaube ich, dass so verstanden zu haben.", antwortete Anne. Ihr Mutter bedachte das mit einem kurzen, registrierenden Nicken. "Verstehe. Und außer dem, dass du ihn auf der Arbeit kennengelernt hast? Erzähl mir ein bisschen von ihm. Du bist so schweigsam." Ihre Mutter begann den Pudding zu löffeln und wartete offensichtlich darauf, dass Anne anfing zu erzählen. Sie biss sich auf die Lippe, und holte Luft. Also gut... "Eigentlich... mag ich einen anderen Mann, Mama.", begann Anne und wich dem Blick ihrer Mutter aus, die von ihrer Nachspeise aufmerkte. "Um genau zu sein... ist es Stefans Bruder. Ich habe ihn vor einigen Wochen kennengelernt, etwa zur gleichen Zeit wie Stefan." Anne runzelte nachdenklich die Stirn. Sie schaute auf um die Reaktion ihrer Mutter zu sehen. Doch die schien entspannt. „Solange du mir nicht glauben machst, du hättest zu beiden eine Beziehung ist daran nichts schlimm.", lachte sie. Anne nickte, nun ebenfalls lächelnd. Das sie das Detail ausgelassen hatte, das die beiden als Patienten da waren, Derren ein im Rollstuhl sitzender, ehemaliger Soldat war, der nun auch noch schwer Depressiv war und das Anne versprochen hatte ihn zu „retten", bemerkte ihre Mutter nicht. Sie blieb nichtsahnend. Anne hatte auch nicht vor das zu erzählen... oder das sie nicht jüdisch waren. Das kam noch erschwerend hinzu, auch wenn ihre Mutter nicht streng religiös war und das durchaus lockerer nahm, als sie sollte, was das ein Punkt, der ihr bestimmt missfallen würde.
„Gut, aber bitte erwähn es nicht vor Henry. Ich glaube er würde an die Decke gehen, wenn er das wüsste.", bat Anne noch im Nachhinein. Ihre Mutter verdrehte die Augen und streichelte über Annes Haar. „Frauengespräche gehen Männer nichts an. Was andere Ohren nicht mitbekommen sollen, dass wird ihnen nicht erzählt. Das weiß du doch!", sagte ihre Mutter mit einem schelmischen Unterton, der sie weit weniger krank wirken ließ, als sie war. Anne lächelte breit, gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und nahm stand dann auf. „Danke!", meinte sie aus dem Tiefen ihres Herzens und wandte sich zum gehen. „Ruf mich, wenn du was brauchst!", warf Anne hinter sich, holte sich mit dem Blick noch einmal das bestätigende Nicken ihrer Mutter ab und ging dann, um selbst etwas zu essen.
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Soldiers Scars #PlatinAward
General Fiction„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...