Kapitel 49 - In Sicherheit

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Die Frau, die Stefan Ju genannt hatte zündete ein paar Kerzen auf dem Tisch im Wintergarten an und lächelte Anne noch einmal aufmunternd zu. Sie hätte gern zurück gelächelt, aber ihre Mundwinkel fühlten sich brüchig und steif an. Es waren Weihnachtskerzen, die dem Raum einen beruhigenden Schein schenkten und sich in den bunten Kugeln des Weihnachtsbaumes brachen, der mit seiner wuchtigen Fülle den Wintergarten schmückte. Unter dem Baum war ein kreisrunder Teppich für die Geschenke gelegt und der goldene Stern auf der Baumkrone hing leicht schief. Anne erkannte den Geruch von Harz und Tannennadeln in der Luft und betrachtete noch einmal den Baum in seiner ganzen Pracht ehe sie den Blick wieder abwandte. Ju schien sich gut auszukennen, denn sie ließ die Streichhölzer wieder in die Schublade neben der Tür sinken aus der sie sie und die Kerzen genommen hatte. Sie schien auch so kein Problem damit zu haben freizügig herumzulaufen, als würde sie hier wohnen und nicht Stefan, der sich tatsächlich noch ein Shirt über den Kopf gezogen hatte. Anne brachte es nicht fertig darüber nachzudenken, sondern zog Julie mit dem Arm den sie um sie gelegt hatte näher zu sich. Julie starrte in die Flammen der Kerze und schien sich nach und nach etwas zu entspannen. Das beruhigte Anne ungemein.

Stefan kam mit einer dampfenden Kanne zurück, gefolgt von Ju, die vier Tassen auf den Tisch stellte. „Ich habe leider nur Beruhigungstee da. Aber mit Honig sollte er genießbar sein.", meinte Stefan vorsorglich und goss jedem von ihnen eine Tasse ein. Anne nickte kaum merklich und stimmte ein kurzes Danke an. Stefan setzte sich Anne gegenüber, Ju daneben. Sie ließ einen Löffel Honig in die heiße Flüssigkeit herab und rührte sie dann langsam um. Anne zog einfach nur die Tasse zu sich heran und schloss ihre tauben Finger darum, dass sie wieder warm wurden. Und Himmel tat das gut! Endlich wieder Wärme zu fühlen. Sie hätte nicht mehr gebraucht, nur Wärme und Sicherheit vor der Nacht. Anne seufzte und schloss sich entspannend die Augen. Als sie sie wieder öffnete sah sie Stefans ins Falten gelegte Stirn und einen nachdenklichen Blick. „Wir waren auf der Feier von einer Freundin-", setzte Anne an, um ihm die ungestellte Frage zu beantworten. Doch er schüttelte den Kopf. „Wenn du mir nicht die Wahrheit erzählen willst, dann sag lieber gar nichts, Anne.", sagte er in einem fremdartig ernsten und resignierten Tonfall, den Anne noch nie bei ihm gehört hatte. Sie wollte spontan protestieren, doch er schnitt ihr das Wort ab. „Ich kann sehen, wenn jemand lügt. Ich bin ja selbst Meister darin. Und immer wenn du lügst oder irgendwas erzählst was eventuell nur halbwegs stimmt werden deine Augen dunkler und du schaust öfter auf deine Hände. Das machen die meisten Menschen, wenn sie lügen, denn sie können dem Blick des Gegenübers nicht standhalten vor innerem Schuldbewusstsein.", erklärte Stefan mit ernster, gedämpfter Stimme und einem intensiven Blick, der Anne dazu zwang wegzusehen. Es folgte Stille, die nur erfüllt war durch das lautlose Tanzen der Flammen. Stefan überraschte Anne immer wieder. Auf den ersten Blick wirkte er wie jemand der sich leicht durchschauen ließ, ein einfach gestrickter Charakter, der zum Großteil aus schlechten Witzen und charmanten Anmachsprüchen bestand, aber dann wechselte er plötzlich sein gesamtes Erscheinen, als wäre er jemand vollkommen anderes. „Können wir für eine Nacht hierbleiben?", fragte Anne also ganz ohne Erklärung und sah wieder zu Stefan. Ju hatte sich an seine Seite gelehnt und stützte das Kinn auf seine Schulter. Die beiden wirkten so vertraut, dass Anne sich wunderte, dass ihre eigene Eskalation mit Stefan erst ein paar Tage her war. Er begann milde zu lächeln. „Du und deine Schwester seid natürlich herzlich willkommen." Er wirkte so ruhig und geerdet wie nie. Nun gelang Anne doch ein Lächeln und Tränen der Erleichterung traten in ihre Augen. „Danke! Ich bin tief in deiner Schuld. Du weißt nicht, wie viel mir das bedeutet." Anne wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, doch der Tisch hinderte sie daran. Alle Anspannung fiel endlich von ihr ab und sie genehmigte sich einen tiefen Schluck Tee der sie sofort von innen wärmte.

„Braucht ihr trockene Klamotten? Ich glaube, ich habe noch ein paar Shirts, die ihr haben könnt.", fragte Stefan dann mit trockenem Ernst konnte sich ein Schmunzeln in Jus Richtung aber nicht verkneifen. Anne schüttelte müde den Kopf. „Nein danke, im Koffer sind Sachen die wir anziehen können." Obwohl sie in diesem Moment zu erschöpft war, um schamhaft zu reagieren, wie es sich für ein wohlerzogenes Mädchen gehörte. Wahrscheinlich hätte sie das Angebot tatsächlich angenommen, wenn sie den Koffer nicht dabei hätten. Stefan zuckte mit den Schultern, nippte an dem Tee und lehnte sich dann zurück. Julie war die ganze Zeit seltsam still, ob sie nicht wusste was sie sagen sollte, oder vor Schmerzen stumm war vermochte Anne nicht zu sagen. Sie widerstand nur schwer dem Drang Julie einfach zu umarmen und ihr zu versichern, dass jetzt alles gut sei. Das sie jetzt in Sicherheit waren und Henry hier nicht herkommen würde.

Eines lag Anne jedoch noch auf dem Herzen. „Stefan, du musst mir etwas versprechen.", begann Anne vorsichtig und wartete auf sein aufmerkendes Brummen. Sein Blick war undurchsichtig, als er sie ansah, abwartend was nun folgen mochte. Anne atmete tief durch. „Ich weiß, dass sich das jetzt merkwürdig anhört, aber bitte erzähl nicht was heute Nacht passiert ist. Sag einfach sonst was warum wir hier sind, aber ruf auf keinen Fall die Polizei. Du musst mir und Julie das versprechen! Es ist schwer zu erklären und ich weiß, dass wir uns eigentlich nicht gut genug dafür kennen, aber ich bitte dich trotzdem!", meinte Anne mit einem Kloß im Hals und bezog Ju mit einem Seitenblick auch in ihre Bitte ein. Stefan sah sie daraufhin schweigend an, als versuchte er zu entschlüsseln was Anne damit meinte. Er forschte in ihren Augen mit einem intensiven, fragenden Blick. Scheinbar abwägend, ob er gerade Teil eines Verbrechens wurde oder Anne komplett den Verstand verloren hatte. Anne presste die Lippen zusammen. Natürlich würde er es nicht versprechen. Was hatte Anne sich dabei gedacht um so etwas zu bitte, was unnötiges Misstrauen erwecken würde? „Na schön, abgesehen davon das die Polizei jetzt das letzte war, an das ich gedacht habe. Ich verspreche es!", sagte Stefan schlicht und sah dann in seine Tasse. „Sind die hinter euch her?", fragte Ju nun doch etwas besorgt und sah von Julie wieder zu Anne. Sie sprach natürlich genau das an, was Anne mit ihrer Bitte provoziert hatte. „Nein, natürlich nicht.", beteuerte Anne um Ruhe bemüht. Außer Henry war gleich zur nächsten Polizeiwache gerannt und hatte sie beide als vermisst oder ausgerissen gemeldet. Ju schien die Antwort nicht recht zu genügen, sie verzog das Gesicht skeptisch und brummte unzufrieden. „Keine Sorge, ich glaube nicht, dass Anne irgendwas gemacht hat. Sie ist brav wie ein Lamm.", meinte Stefan unerwartet und verteidigte Anne zu ihrer Überraschung mit einer Selbstverständlichkeit, als würde er sie schon seit Jahren kennen. Anne zog erstaunt die Augenbrauen hoch, währenddessen auch Ju kaum zu Glauben schien was Stefan da sagte. „Ich würde nie eine ernsthafte Straftat begehen! Es sind nur... Probleme über die ich gerade einfach nicht sprechen kann.", versuchte Anne noch einmal zu entschärfen. Stefan nickte verständnisvoll, als wüsste er ganz genau wovon sie sprach. Ju dagegen wirkte noch immer unzufrieden mit dieser Beteuerung, aber sie beließ es darauf. Sie wollte wohl eine Diskussion lostreten.

Es trat Ruhe ein in der jeder nur seinen Tee trank und sich Gedanken machte. Anne genoss den Frieden des Augenblicks und ließ sich in ihren Stuhl sinken, in dem sie sofort hätte einschlafen können. „Ich bin müde.", seufzte Julie irgendwann dazwischen und klang so herzzerreißend jung, als Anne sofort geneigt war ihr über den Kopf zu streicheln. Stefan lächelte amüsiert in seine Tasse. „Natürlich seid ihr das! Ich mache euch schnell das Wohnzimmer fertig. Fühlt euch frei solange das Bad zu benutzen um euch was trockenes anzuziehen.", meinte Stefan zuvorkommend und stellte seine leere Tasse ab. Er rückte vom Tisch ab und stand auf. Ehe er das Zimmer verließ beugte er sich noch zu Ju runter und flüsterte ihr etwas ins Ohr was sich anhörte wie: „Und dich will ich gleich in meinem Bett wiederfinden." Sie kicherte und knuffte ihn gespielt empört die Schulter. Stefan zwinkerte grinsend, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand dann im Haus. Anne hätte das mehr in Verlegenheit bringen sollen, aber sie fühlte kaum die Scham wegzuschauen. Stattdessen stand sie selber auf und bedeutete Julie mitzukommen. Anne war einfach froh, dass sie hier waren. Endlich in Sicherheit...

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