Anne beobachtete, wie Stefan mit einem Kugelschreiber seine Adresse auf ein Notizblock schrieb. Verstohlen wischte sie sich die letzte Träne aus dem Augenwinkel und wippte auf den Ballen vor und zurück. Stefan schrieb unordentlicher als Derren, trotz ihrer nahen Verwandtschaft war ihre Schrift sehr unterschiedlich. Insgeheim hoffte Anne es später noch lesen zu können. Vielleicht schrieb sie noch mal in sauber ab. Und wieder war die Wohnung still bis auf die Uhr und das Kratzen des Stiftes auf dem Papier.
Als Stefan fertig war betrachtete er sein Werk kurz, faltete das Blatt und drehte sich um, um es Anne in die Hand zu drücken. „Dann nächsten Freitag Morgen.", meinte er wie nebenbei. Sie nahm den Zettel hin und nickte bestätigend. „Ich geb euch aber keine Garantie, dass es was bringt. Ich meine... ich bin-" „Derren hat dich wirklich gern! Er wird dich erkennen, wenn da noch ein Mensch in ihm steckt.", unterbrach Stefan sie freundlich aber bestimmt. Sie biss sich nachdenklich auf die Lippe. Hoffentlich hatte er recht, es würde äußerst unangenehm werden, wenn sie vor ihm stand und er kaum mehr ihren Namen wusste. „Und, wenn noch ein Mann in ihm steckt.", fügte Stefan unerwartet schelmisch hinzu und sah seelenruhig zu wie Anne rot anlief. Sie wandte den Blick beschämt ab und ertrug Stefans hartes Lachen kurz. Wenn sie nur etwas selbstbewusster gewesen wäre, hätte sie ihn jetzt einfach den Zettel ins Gesicht geworfen und ihn davon geschickt. Aber sie fühlte sich machtlos und der Gedanke, das bei einem nahezu Fremden zu machen gefiel ihr nicht. Also ertrug sie den Moment schweigend, und versuchte ihn so schnell wie möglich zu vergessen um unbelastet weiter machen zu können.
Stefan räusperte sich amüsiert und fasste sich dann wieder. Doch ein erheiterter Ausdruck blieb auf seinem Gesicht und umspielte seine Mundwinkel. „Gut, wie auch immer. Wenn irgendwas sein sollte, weißt du ja wo du anrufen musst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Familie dich unterstützt in diesem Vorhaben. Also, alles wird gut!", meinte er optimistisch und machte sich dann eigenständig auf dem Weg zur Tür. Anne folgte ihm und sah zu, wie er sich im Vorbeigehen auf die Bilder auf der Kommode linste, an der er vorbeikam. Familienfotos mit und ohne Henry und einige von Julie und Anne allein. „Deine Schwester?", fragte Stefan kurz darauf und blieb stehen im sich fragend zu Anne umzudrehen. Anne nickte ohne etwas zu sagen. Stefan brummte nachdenklich, nahm das Bild und schaute es sich zu Annes Überraschung näher an. „Meine jüngere Schwester. Julie.", setzte Anne schnell nach und machte Anstalten Stefan das Bild wieder abzunehmen, doch er wich geschickt aus. „Ich wusste, ich habe noch jemand anderes am Telefon gehört.", sprach Stefan seine Gedanken laut aus und studierte das Bild weiter, als würde es eine versteckte Botschaft enthalten. „Ihr seht euch nicht besonders ähnlich.", stellte er fest und sah dann zu Anne. Sie zuckte mit den Schultern, wusste nicht genau was sie sagen sollte. „Du und Derren schon...", murmelte Anne und erntete ein bestätigendes Nicken. „Einige halten uns sogar für Zwillingsbrüder. Sind wir aber zum Glück nicht. Derren ist knapp ein Jahr älter, 11 Monate und 4 Tage um genau zu sein.", gab Stefan zum besten und runzelte dabei die Stirn, als müsste er darüber wirklich nachdenken. „Aber so genau wolltest du das sicher nicht wissen.", fügte er noch entschuldigend hinzu. Anne antwortete mit einem schüchternen Lächeln. „Es ist nicht uninteressant. Um ehrlich zu sein habe ich mich schon gefragt wer von euch der ältere ist, habe mich aber bisher nicht getraut zu fragen." Stefan lachte herzlich, dann bedachte er sie beide mit einem kurzem Blick im Spiegel und machte dann Anstalten die Tür aufzumachen. Anne hätte ihm Jacke und Schuhe gereicht, wenn er sie ausgezogen hätte, aber es beruhigte sie auch irgendwie, dass er es nicht gemacht hatte.
Die Tür ging mit einem müden Schnappen auf. Stefan drehte sich noch einmal um lächelte schräg. Zu Annes Verwunderung betrachtete er sie einen etwas zu langen Moment, in dem sie sich fragte, ob sie irgendwas sagen oder tun sollte. Anne räusperte sich. „Ehm... na gut, dann hab eine sichere Heimfahrt.", sagte sie aus Ermangelung eines anderen Satzes, die ihr in dieser Situation einfiel. Stefan nickte zustimmend, kam dann noch einmal zurück und umarmte Anne fest zum Abschied. Sie erwiderte die Umarmung zaghaft. „Ich wünschte, ich wäre an Derrens Stelle. Dann wäre ich es, der dich haben kann.", murmelte Stefan mit einem kleinen Seufzer in ihr Ohr und zerstörte damit den Moment. Anne löste sich rau aus der Umarmung und drückte ihn mit der Handfläche weg. „Was?!", entfuhr es ihr etwas zu schrill. Stefan verdrehte die Augen. „Nichts, ich habe nur laut gedacht.", meinte er leichthin und wandte sich zur Tür, um zu gehen. Anne Herz schlug ihr bis zum Hals. Sowas hatte ihr bisher noch kein Mann je gesagt. Nicht, dass sie das einfach so hinnahm. Es hatte sie ja gewundert, dass Stefan sich so gar nicht verhalten hatte, wie sie ihn zuerst kennengelernt hatte. Jetzt war sie wieder in die Zeit ihrer ersten Begegnung zurückversetzt, als er sie so unglaublich charmant angefliertet hatte. Das war jetzt schon eine Weile her und wieder fühlte Anne sich irgendwie hilflos und unangenehm berührt. „Ich bin am Freitag nicht wegen dir da.", erinnerte Anne ihn, mit der Hoffnung ihn wieder zu besinnen, warum er hier war. Für Derren, dem es schlecht ging und der dingend Hilfe brauchte. Stefan war schon fast zu Tür raus und blieb dann nochmal stehen. „Ich weiß.", meinte er umso ernster, ohne sich umzudrehen. Anne war erschrocken, wie schnell sich seine Stimme geändert hatte, oder war sie auf seine Maskerade hereingefallen? Hatte sie ihm das Lächeln geglaubt obwohl es nicht echt war, sondern nur ein gut geübtes Schauspiel?
Anne musterte seinen Rücken, wie er da stand. Stark und ungebrochen. Und doch hätte sie jetzt gern in seinem Gesicht gelesen. War er traurig oder glücklich? Ernst oder erheitert? „Der Ältere hat eben Vorrecht...", murmelte Stefan leise, wie die versprachlichte Endung eines Gedanken, den Anne nicht verstehen konnte. Sie war sich nichtmal sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Doch bevor sie nachfragen konnte, was er damit meinte, stieß er ein heiteres „Bis Freitag!" aus und ging endgültig hinaus. Die Tür fiel hinter ihm zu und Anne stand wieder allein in dem Flur. Mit einer vor Aufregung zitterten Hand und einem Zettel auf dem Derren (und Stefans) Adresse stand. Anne schluckte und stieß nach einem Moment der Stille die angehaltene Luft aus. Was sollte sie jetzt tun? Hingehen? Einfach wegbleiben? Nach dem, was eben geschehen war sträubte sich ihr Innerstes Freitag überhaupt raus zu gehen. Sie wusste jetzt wieder, warum sie Stefan nicht mochte. Oder ihn zumindest versuchen wollte zu ignorieren. Derren war nie so gewesen zu ihr, er hatte sie nie schamlos angefliertet oder es überhaupt versucht. Und genau das hatte Anne gefallen, sie mochte keine Draufgänger, die es eh nicht ernst meinten und alles behaupten würden, nur um das zu bekommen was sie wollten. Jetzt stand sie zwischen diesen beiden Emotionen und wusste nicht, was sie machen sollte. Kommen, wegen Derren, oder wegbleiben, wegen Stefan?
Anne entschied sich, diese Wahl auf später zu verschieben und anzufangen Essen zu kochen. Es musste auf dem Tisch stehen bevor Henry nachhause kam. Und vor allem durfte er nicht wissen, dass Anne Besuch ins Haus gelassen hatte.
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Soldiers Scars #PlatinAward
General Fiction„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...