Erschrocken von seiner physischen Anwesenheit wusste Anne nicht was sie sagen sollte und starrte ihn wortlos an. Er salutierte gespielt und lächelte noch breiter. „Sie haben wohl mit jemand anderem gerechnet, Ma'am.", meinte er gut gelaunt. Dieser leichte irische Singsang der auch Derren Aussprache anhaftete klang deutlich heraus. Anne bezweifelte, dass es den beiden persönlich auffiel, aber ihr schon. Jedes Mal... „Nein, ich äh... das habe ich nicht.", brachte Anne verunsichert hervor. Stefan schielte unauffällig an ihr vorbei in die Wohnung. „Ist Henry Ihr Bruder oder Ihr Liebhaber?", fragte er dreist, wofür er eigentlich verdient hätte, das Anne ihm die Tür vor der Nase wieder zuschlug. Aber sie war ja viel zu freundlich. Wie immer. „Weder noch. Henry ist...", sie verkniff sich ein Seufzer. „mein Stiefvater." Stefan zog die Augenbrauen hoch und musterte Anne von oben bis unten, sagte aber nichts. Er nickte nur registrierend und räusperte sich. Natürlich dachte er sich seinen Teil, und Anne konnte förmlich sehen wie sein Blick über die blauen Flecke und die Kleidung fuhr, die sie trug. Alles andere als neuste Mode und alles andere als schicklich, um Gäste zu empfangen. Aber er hielt sich darüber zurück und schwieg seine Gedanken aus, was sie erleichterte.
„Kann ich mit Ihnen reden?", fragte er nun um einiges ernster. Er sah Anne mit einem eindringlichen Blick an, der ihr beinahe zu viel war. Intensiv, klug, irgendwas ahnend und viel zu schwer für einen jungen Mann seines Alters. Nachdenklich zuckte sie mit den Schultern und trat dann etwas zurück um ihn rein zu lassen, auch wenn Besuch jetzt das letzte war was sie wollte.
„Woher wissen Sie eigentlich wo ich wohne?", fragte Anne etwas misstrauisch, als sie leise die Haustür hinter Stefan schloss und ihm ins Esszimmer folgte. „Ich habe meine Quellen.", meinte er leichthin und warf ihn ein freches Grinsen zu. Anne verengte die Augen etwas. „Ihre Familie gehört aber nicht der irischen Mafia an?", fragte Anne kindlich naiv, dass sie es sofort wieder zurückgenommen hätte, wenn sie gekonnte hätte. Stefan lachte trocken und zog sich einen Stuhl heran. „Nein, keine Angst. Wir sind ganz harmlos. Und jetzt lassen wir diese höfliche Anrede, wir sind uns ja nicht mehr fremd.", zwinkerte er ihr zu und ließ sich in den abgeriebenen Sitz fallen. Sie sah, dass diese Leichtigkeit nur gespielt war, seine eigentliche Stimmung spiegelte es nicht wieder. Sobald er den Blick abwandte erstarb das jungenhafte, freche Grinsen und er wurde ernst und betrübt. Wie eine Maske, die er schon öfter aufgesetzt hatte und die für das ungeübte Auge nicht zu erkennen war. Doch Anne erkannte eine Maske, wenn sie eine sah. Sie trug ja oft genug selbst eine.
Anne zwang sich, das erstmal nicht näher zu überdenken und setzte sich ihrerseits etwas steif ihm gegenüber.
Für einige Momente herrschte Stille. Stefan sah sich um und richtete den Blick dann wieder auf sie. Anne fühlte sich irgendwie nicht allzu wohl und knetete nervös ihre Hände in dem dicken Winterpulli über dem zerschlissenen Rock. „Bist du allein hier?", fragte Stefan und schien noch einmal in die Stille des Hauses zu lauschen. Anne schüttelte eilig den Kopf, nicht, dass er noch auf falsche Gedanken kam. Nur weil er jetzt die Frechheit besaß sich mit ihr wie mit einer alten Freundin zu unterhalten war es noch lange nicht in Ordnung so weit in ihre Privatsphäre zu steigen. Um ehrlich zu sein hatte ihr die höfliche Anrede besser gefallen. Die hatte eine Distanz geschaffen, die sie brauchte. „Meine Mutter ist oben.", entgegnete sie daher eilig und schluckte angespannt. Stefan nickte nachdenklich und lehnte sich dann Anne entgegen über den Esstisch. „Warum bist du hier?", fragte Anne und lehnte sich etwas von ihm weg. Er registrierte das mit einem leichten Seufzer. „Es geht um Derren.", meinte er und sackte ein unmerkliches Stück in sich zusammen. Seine Stimme war von einen Moment zum anderen viel tiefer und irgendwie resigierter geworden. Anne merkte auf und musterte Stefan, wie er so da saß, die Hände ineinander faltete und sein Blick merklich von Kummer sprach. „Ist... etwas passiert?", fragte sie angespannt und leise. Unmerklich hatte sich ein Eisklumpen in ihrem Magen entwickelt. Ein freudloses Lächeln rutschte über Stefan Gesicht. „Er ist krank." Anne blieb verwirrt. „Aber er wurde doch entlassen." - „Ja, körperlich geht ihm wohl wieder gut. Aber seine Seele ist ziemlich... kaputt.", versuchte Stefan ungeschickt zu erklären. Annes zog die Augenbrauen hoch und fragte sich, was Stefan meinte. „Seine Seele?", wiederholte sie wie schwer von Begriff. Stefan nickte. „Er ist praktisch ein Wrack! Alles was er tut, ist nur ein weiterer Weg sich von der Welt zu entfernen. Er ist verrückt geworden und trotzdem tut er so als ob alles gut wäre. Als könnte er verstecken wie schlecht es ihm geht.", sprudelte Stefan, während seine Stimme einen immer schrilleren, verzweifelteren Klang bekam. Anne presste die Lippen aufeinander und versuchte sich das Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Aber innerlich dachte sie an die Vase zurück, die sie ungeschickt wie immer hatte fallen lassen. Wenn nun sie daran schuld war? Sie dummes Ding, die sie nicht wusste was sie tat? „Es ist schlimm.", meinte Stefan nach einer kurzen Pause, die er brauchte um sich wieder zu sammeln. Man sah ihm an wie nahe ihm das Thema ging. Jetzt wirkte er gar nicht mehr wie der Stefan, die Anne auf dem Gang angemacht hatte und keinerlei Scham gespürt hatte sie zu einem romantischen Treffen einzuladen. Der fröhlich war, und witzelte. Der frech grinste und ihr den Arm um die Schultern legte, als würden sie sich schon ewig kennen. Und das erschreckte Anne beinahe am meisten an dieser Situation.
„Er isst wenig, er schläft kaum und er unterhält sich mit sich selbst mehr als mit uns. Jeden Tag wird es schlimmer, jeder Einfall den er hat ist beängstigender und manchmal... habe ich Angst er will sich etwas antun.", gestand Stefan langsam, den Blick gebannt auf einen Punkt hinter Anne. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus, ihr war mit einem Schlag eiskalt. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust wie wild und sie musste mehrmals schlucken, damit sie wieder das Gefühl hatte, genug Luft zu bekommen. „Hat er denn schon... irgendwas versucht?", rang sie sich schließlich die Frage ab und erstickte beinahe an den Worte. Sie wollte sich nicht vorstellen, dass das wirklich passierte. Das dieser junge Mann, der eigentlich immer so stark und unerschütterlich gewirkt hatte jetzt gebrochen war und sich umbringen wollte. Anne konnte das nicht glauben. Es war, als falle der Himmel auf sie herab. Doch Stefan schüttelte den Kopf ohne aufzublicken. „Ich glaube nicht... Noch nicht." Seine Stimme war heiser vor zurückgehaltenen Gefühlen. Anne hatte das Bedürfnis aufzustehen und zu schreien. Stefan entgegen zu rufen das das alles nicht wahr sein konnte, dass er log. Aber ihr war längst bewusst, dass dem nicht so war.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens in dem jeder seinen ganz eigenen Horror der Gefühle durchmachte, die doch so ähnlich waren, räusperte Stefan sich. Er blickte Anne in die Augen. Einen langen, intensiven Blick, der sie schon erahnen ließ, was als nächstes kam. „Aus diesem Grund bin ich hier...", sagte er mit langsam wieder erstarkender Stimme. Anne wich seinem Blick nicht aus. „Uns, also seine Familie hört und sieht er nicht mehr. Egal was wir versuchen, ich glaube nicht das wir ihn noch retten können, aus diesem Loch, in das er gefallen ist." Er griff sanft und mit warmen Händen nach Annes. Die plötzliche Berührung ließ sie zurückzucken, doch Stefan ließ sie nicht los. „Du musst versuchen ihn zu retten!", schloss Stefan nachdrücklich und sah Anne erwartungsvoll an. Sie hatte geahnt, dass er das sagen würde, aber darauf vorbereitet war sie nicht. Alles drehte sich und es war ihr unmöglich einen Gedanken in ihrem rotierenden Kopf zu fassen. Sie wollte Derren helfen, daran bestand für keine Sekunde ein Zweifel, aber sie fürchtete, dass sie nicht dazu in der Lage war. Was sollte sie schon tun? Ihm die Hand halten? Sagen, alles würde wieder gut werden? Sie war doch Schuld daran das es ihm schlecht ging! Die Vase, hätte sie sie nur fester gehalten. Sie war nur ein dummes, kleines Mädchen, wie Henry immer sagte. Sie konnte ja nichtmal sich selbst oder Julie retten, wie sollte sie dann einen fast fremden Mann helfen, der sie bestimmt schon fast vergessen hatte?
Äußerlich presste Anne die Lippen immer fester aufeinander bis sie weiß wurden und sackte sichtlich zusammen. Sie ertrug Stefans Blick nicht und schaute auf die zerkratze Tischplatte. „Stefan...", fing sie leise an und merkte das ihre Stimme zitterte, als wäre sie kurz davor zu weinen. Oder tat sie das etwa schon längst? „Ich kann Derren nicht retten." Da waren die ersten Schluchzer. Salzige Tränen, die sich langsam über ihre Wange abwärts bewegten. „Ich wünschte, ich könnte. Aber ich weiß nicht wie!", jammerte sie zwischen zwei Schluchzern und versuchte sich dann eisern wieder zu fangen. Ihre Wangen glühten, sie hasste es vor jemand anderem zu weinen. Stefan lachte zwischen alle dem trocken und freudlos auf und drückte ihre Hände mit einer tiefen Überzeugung. „Du kannst!", flüsterte er und stand dann auf. Sie hörte Schritte, merkte wie seine Hände ihre losließen. Im nächsten Moment wurde sie hochgerissen und fest umarmt. Überrascht von Stefans Umarmung konnte sie sich nicht bewegen. „Denn du bist die einzige, die ihn noch retten kann...", flüsterte er an ihrem Ohr. Anne wollte den Kopf protestierend schütteln und Stefan wegstoßen, aus dem Haus schmeißen. Doch an der Umarmung war nichts romantisches. Es war keine Umarmung von zwei Liebenden, sondern eine Umarmung von zwei Menschen die Halt und Trost brauchten. Und der schnelle Gedanke, dass Stefan sie mit dieser Umarmung ungeschickt trösten wollte verpuffte. Denn er war es, der den Trost suchte. Anne konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte mal so tröstlich und warm umarmt worden war. Das Gefühl war so verlockend, dass sie die Umarmung letztendlich erwiderte, die Wange an Stefans Schulter drückte und einfach nur seine Wärme genoss. „Ich kann es versuchen.", flüsterte sie schließlich zurück und spürte Stefans Erleichterung, während ganz langsam ein leichtes Lächeln ihre Mundwinkel umspielte. Sie würde Derren wiedersehen...
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Soldiers Scars #PlatinAward
General Fiction„Krieg... Krieg macht dich zu einem Menschen der du nicht sein willst. Er zerfrisst dich von innen nach außen, bis nichts mehr von deinem alten Ich übrig ist." Derren McConnell ist gerade mal 22, als er für zwei Jahre nach Vietnam in den Krieg gesch...